
YOANI SÁNCHEZ / La Habana / 17.Mai 2023
An die „Spezielle Periode“ erinnert man sich aufgrund der langen Stromausfälle und wegen des Mangels an Lebensmitteln, aber auch weil es eine Zeit in Kuba war, in der Vandalismus und Raub ein alarmierend hohes Niveau erreichten. Glühbirnen verschwanden aus Schulen und Krankenhäusern; Badezimmerarmaturen, die kaum ein paar Stunden an dem Platz blieben, wo man sie installiert hatte; Steckdosen, die in Arztpraxen mit einem Ruck von den Wänden gerissen wurden; und sogar Eisenbahnschwellen verwandelten sich in Schweineställe. Elektromasten demontierte man Stück für Stück und machte daraus Zäune für Häuser, während die Räder von Müllcontainern bei Schubkarren Verwendung fanden, um damit Wasser heranzukarren. Diese Plünderungen verbreiteten sich unter der gesamten kubanischen Gesellschaft, und die Plünderer waren fast „Helden“, denen es nachzueifern galt, weil sie mit ihrer Geschicklichkeit und den „Früchten ihres Raubs“ das Leben ihrer Familien sicherten.
Mit der neuen Krise, die wir jetzt erleben, sind die Stromsperren zurückgekehrt, auch die langen Warteschlangen um Nahrungsmittel zu kaufen, und − was auch nicht fehlt − der Raub von allem, was man wegtragen kann. An diesem Dienstag entfernte jemand zwei Glasscheiben aus einer Fensterfront im Korridor des vierzehnten Stockwerks, wo ich in Havanna wohne. Sie waren dort seit Mai 1985, als dieser hässlichen Betonklotzes bezogen wurde; sie überstanden sogar unbeschädigt die Plünderungswut der 90er Jahre. Trotzdem, jemand rechnete sich aus, dass jede der fast einen Quadratmeter großen Scheiben 5.000 Pesos bringen würde, und nahm sie mit. Die Aktion war alles andere als einfach: die Aluminiumrahmen entfernen, die Scheiben herausnehmen und dabei aufpassen, sich nicht an ihren scharfen Rändern zu schneiden. Gegenüber konnte jemand in jedem Augenblick die Wohnungstür öffnen und die Diebe überraschen; es müssen mehr als einer gewesen sein, weil der Diebstahl so kompliziert war.
Unruhe verbreitet sich unter allen Nachbarn, die einen solchen Raub erlebt haben. Keine Maßnahme scheint sicher genug zu sein, angesichts der Wut der Überfälle, die das ganze Land erschüttern.
Eine Ungeschicklichkeit beim Transport führte dazu, dass bei einer Scheibe eine Ecke abbrach, aber die Plünderer störte das nicht, sie nahmen auch dieses Teil mit. Sie transportierten ihre Beute am helllichten Tag und hinterließen in unserem Korridor eine breite, offene Zone, die nicht mehr vor Wind und Regen geschützt ist. In mehr als 50m Höhe und in einem Land mit einer ausgeprägten Hurrikan-Saison bedeutet der Verlust dieser Fenster ein höheres Risiko für alle Bewohner des Stockwerks. Zunächst und angesichts der hohen Preise für Glas bleibt als Lösung nur, beide Öffnungen mit Brettern zu verschließen und darauf zu vertrauen, dass die Diebe nicht auch noch die paar der alten Holzteile mitzunehmen wollen. Das Problem ist viel größer, als das einer Lücke in der Fensterfront; es besteht die Gefahr, dass ein Wirbelsturms kommt, ehe man die Öffnung verschließen kann.
Unruhe verbreitet sich unter allen Nachbarn, die einen solchen Raub erlebt haben. Keine Maßnahme scheint sicher genug zu sein, angesichts der Wut der Überfälle, die das ganze Land erschüttern. Hausflure bleiben dunkel, weil man die Lampen geschickt und schnell demontiert hat; in einigen Gebäuden hat man Stufen aus Granit herausgerissen und in Küchen wiederverwendet; und aus dem Holz von Parkbänken macht man Möbel oder verarbeitet es zu Holzkohle. Im öffentlichen Raum oder in gemeinschaftlich genutzten Räumen ist niemand mehr sicher, und auch in Wohnungen kommt man nicht mehr zur Ruhe. Kuba ist ein Land, in dem Bauern nicht ruhig schlafen können, weil sie ihnen ihre Tiere stehlen; wo Mütter die Wäscheständer im Blick behalten müssen, weil sie die zusammen mit den Windeln für das Baby mitnehmen; und in Klassenzimmern sollte man den Rucksack nicht außer Acht lassen, jeder Tag ist ein Risiko Bleistifte, Radiergummis oder das Pausenbrot zu verlieren.
Unser Leben ist unsicher geworden. Nichts und niemand ist mehr sicher. Was wäre geschehen, wenn ich gestern beim Verlassen des Hauses den Dieben der zwei Glasscheiben begegnet wäre? Wären sie geflohen oder hätten sie sich mir entgegengestellt? Was wäre einem alten Mann passiert, der auf seinen Wegen durch das Gebäude die Ganoven bei ihrer Arbeit entdeckt hätte? Das will ich mir nicht vorstellen. Wie bei der Krise vor 30 Jahren sind wir ständig in Gefahr überfallen zu werden, und wir leben mit der Angst, dass hinter jeder Straßenecke ein Aggressor steht, ein unersättlicher Räuber, ein Dieb.
Übersetzung: Dieter Schubert
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