Die kubanischen Träger von Roben verstehen nichts von Gerechtigkeit

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Obwohl die Justitia eine Binde vor den Augen hat, muss das Handeln ihrer Fachleute transparent sein.

YOANI SÁNCHEZ / La Habana / 23.März 2022

Die staatlichen kubanischen Juristen sind verärgert, sehr verärgert. Als Folge der Gefängnisstrafen bis zu 30 Jahren für hunderte von Demonstranten  bei den Protesten des 11.Juli, haben sich die Namen der Staatsanwälte und Richter in den sozialen Netzwerken verbreitet. Neben ihren Gesichtern findet man eine Strafanzeige, in der sie beschuldigt werden, dass sie Gerichte missbraucht hätten, um eine Terror-Botschaft auszusenden. Auf diese Anklage hin antworteten die Rechtskundigen mit verschiedenen Drohungen.

Eine Erklärung des Nationalen Juristenverbands mit Sitz in Havanna versichert, dass seine Mitglieder Opfer einer „Verleumdungskampagne“ geworden seien. Der Text warnt jeden, der sich dieser Kritik anschließt oder „auch nur Informationen darüber weitergibt“, dass ihn die volle Härte des Gesetzes treffen werde. Hinzugefügt ist, dass die betroffenen Juristen bereit sind, die Robe und das Podium gegen ein Gewehr und einen Schützengraben auszutauschen. Der Ton des Dokuments erinnert mehr an Kriegsrhetorik, als an die Sprache von Juristen.

Woher kommt diese jähzornige Reaktion? Wenn sie glaubten nach Recht und Gesetz gehandelt zu haben, wie erklärt sich dann ihr Grimm, dass man ihre Identität bekannt macht? Vielleicht hofften sie, dass die Angehörigen der Verurteilten die Urteile geheim halten und sich damit begnügen würden, ihre im Gefängnis schmachtenden Söhne und Töchter zu sehen? Halten sie sich für so abgehoben vom Volk, dass man ihr Tun nicht einmal mehr infrage stellen darf? Das Kommuniqué der Staatsanwälte und Richter kann man nur verstehen, wenn sie fürchten, dass die Tage des aktuellen politischen Systems gezählt sind. Es ist nur nachvollziehbar, wenn sie ahnen, dass die Möglichkeit, für ihre Taten zur Verantwortung gezogen zu werden, schon hinter der nächsten Straßenecke lauert.

Obwohl man die Justitia als Frau darstellt, deren Augen eine Binde bedeckt, muss das Tun ihrer Fachleute, die das Recht pflegen, transparent sein, denn mit ihrer Unterschrift bestätigen sie ihre Teilnahme an einem rechtmäßigen Verfahren.

Obwohl man die Justitia als Frau darstellt, deren Augen eine Binde bedeckt, muss das Tun ihrer Fachleute, die das Recht pflegen, transparent sein, denn mit ihrer Unterschrift bestätigen sie ihre Teilnahme an einem rechtmäßigen Verfahren. Es handelt sich nicht eine Bande von Gesetzlosen mit Masken, die bei Nacht in einem dunklen Wald mutmaßliche Schuldige exekutieren. Es sind Personen mit einem Hochschulabschluss in einem Fachgebiet, was beinhaltet, dass sie Verantwortung für ihre Entscheidungen und Fehler übernehmen.

Mit der einschüchternden Erklärung des Juristenverbands gerät die nicht unabhängige Justiz weiter in Verruf, weil sie sich dazu hergegeben hat, die Bürger in Angst zu versetzen und ihnen ihr Recht auf Protest zu nehmen.

Die Staatsanwälte und Richter haben mit ihrem Handeln, und jetzt auch mit ihren Worten, klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nicht auf der Seite von Verfahrensgarantien stehen, sondern auf der Seite der politischen Macht. Sie haben die Gerichte benutzt, um eine Ideologie zu stützen. Sie haben ihre Roben beschmutzt.

Obwohl ihr offizieller Text mit aggressiven Sätzen durchsetzt ist, zwischen den Zeilen liest man ihre Angst. Statt einer Rechtfertigung für ihren Umgang mit dem Recht, ist der Text genau genommen ein Kommuniqué von Leuten, die Furcht vor der Zukunft haben. Jedes Wort, das dort steht, zeigt die wachsende Angst in ihrem Inneren, jedes Mal, wenn sie sich vorstellen, eines Tages selbst vor Gericht zu stehen, vor Geschworenen, die nicht einer Partei sondern dem Gesetz verpflichtet sind.

            Übersetzung: Dieter Schubert

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text wurde ursprünglich von der Deutschen Welle in Spanisch veröffentlicht.

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Manche halten ein Plakat, andere verlassen Kuba

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Der Moment, als Marina Ovsyannikova die Nachrichtensendung unterbricht und gegen den Krieg in der Ukraine protestiert. (Screenshot)

YOANI SÁNCHEZ / La Habana / 16.März 2022

Sie heißt Marina Ovsyannikova, und bis vor wenigen Tagen war sie Redakteurin bei Kanal 1 des russischen Staatsfernsehens. Aber nachdem sie den Mut hatte, bei einer Live-Nachrichtensendung mit einem Plakat gegen den Krieg in der Ukraine aufzutreten, wurde ihr Name zu einem Synonym für professionelle Standhaftigkeit und Kühnheit, und außerdem zu einem Symbol, das vielen in autoritär regierten Ländern eine Lehre sein sollte.

An dem Tag, an dem Ovsyannikova ihr Plakat zeigte, waren die sozialen Netzwerke in Kuba mit der x-ten Debatte über einen offiziellen Journalisten beschäftigt, der sich aus dem Staub gemacht hatte und in dem Land um Asyl nachsuchte, das bis vor kurzem noch im Mittelpunkt seiner Attacken stand. Wie bei jeder Polemik dieser Art, manche beschuldigen den Reporter ein Opportunist zu sein, andere appellieren an Mitgefühl, seine Flucht zu akzeptieren, und die meisten betrachten sein Verlassen des Landes als eine neue „Wasserscheide“, die Kubaner voneinander trennt.

Eine Frau, allein auf sich gestellt, mit einem von Hand beschriebenen Plakat, erschütterte die Polemik, die uns strapazierte.

Eine Frau, allein auf sich gestellt, mit einem von Hand beschriebenen Plakat, erschütterte die Polemik, die uns strapazierte. Ovsyannikova erreichte, dass die Argumente der beiden Seiten belanglos wurden. „Stoppt den Krieg, glaubt nicht der Propaganda“, stand auf dem Plakat, das sie hinter der Nachrichtensprecherin in die Kamera hielt. Ihre Geste verdient nicht nur großen Respekt; sie riskierte mit ihrer Verwegenheit vor Gericht zu enden, mit der Verurteilung zu einer langjährigen Gefängnisstrafe, wenngleich es bis jetzt bei einem Arrest und einer Geldstrafe blieb.

Ohne Absicht und ohne diese Insel im Hinterkopf zu haben, hat die junge Frau auch zu uns Kubaner gesprochen. Sie sagte zu jenen, die alle Personen ablehnen, die bei staatlichen Medien arbeiteten: eines Tages wird irgendein Angestellter in dieser Propaganda-Maschinerie eine Aufgabe übernehmen, und er wird viel mehr Zuhörer erreichen als ein Aktivist, der an einer Straßenecke schreit.

Die anderen, die zu Nachsicht im Umgang mit offiziellen Journalisten aufrufen, die bis gestern Oppositionelle diffamierten und heute froh sind, dass sie auf „freien Boden“ gekommen sind …diese anderen hat die junge Russin daran erinnert, dass man immer etwas tun kann. Jede Gelegenheit vor einem Mikrophon, jede Möglichkeit live zu sprechen und dabei die Diktatur nicht zu denunzieren, ist eine verpasste Gelegenheit. Es ist Zeit, die man dem autoritären System schenkt, das in dieser Hemisphäre am längsten an der Macht ist.

Ovsyannikova hat uns den Spiegel vorgehalten. Nicht alle, die für das staatliche Fernsehen arbeiten, sind mittelmäßige „Lautsprecher“ von Losungen; oft reicht der Spruch, dass „man nichts machen kann, weil alles kontrolliert wird“, um die bürgerliche Verantwortung hintan zu stellen. Wir müssen darüber wachen, dass diese Frau nicht im Gefängnis endet, nicht mit einer geheimnisvollen Substanz vergiftet oder ins Exil getrieben wird. Wir müssen aber auch dazu aufrufen, dass jeder Kubaner jede sich bietende Gelegenheit nutzt, um diesen Horror von uns abzuschütteln.

            Übersetzung: Dieter Schubert

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Wir brauchen keine guten Ratschläge, sondern Freiheit, um Nahrungsmittel zu erzeugen

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Warum gibt mir der Weißkohl, den ich in einer alten Blechdose auf meinem Balkon ausgesät habe, mehr Hoffnung, als die kurzlebigen Pläne der Acopio? (Yoani Sánchez)

YOANI SÁNCHEZ / La Habana / 11.März 2022

Zu uns nach Kuba kommen „Experten“, wie der brasilianische Dominikaner Frei Betto, und sie sagen uns was wir tun sollten, um die Souveränität auf dem Lebensmittelsektor zu garantieren…aber wir wissen das schon. Wir wissen es seit Jahrhunderten, seit die frühen Bewohner dieser Insel „casabe“ herstellten, Brot aus dem Mehl der Maniokwurzel; und seit meine Großeltern übriggebliebene große Maiskörner für ihre „tayuyos“ verwendeten, das sind Taschen aus Hüllblättern von Maiskolben, gefüllt mit allerlei Zutaten; und seit wir unseren kleinen Kindern „chícharo“ zu essen geben, einen pürierten Erbsenbrei, damit sie wegen ihrer dünnen Beine und der geringen Körpergröße wachsen sollen…das alles wissen wir schon.

Man nennt es „Freiheit“ und ist die wichtigste „Zutat“ für jedes Gericht, jede landwirtschaftlichen Produktion, jede Ernte.

Es ist nur Weißkohl, und wir sind nur Menschen, die einen Krautkopf ernten, der weiß, dass die Erde uns viel mehr geben könnte.

Warum gibt mir der Weißkohl, den ich in einer alten Blechbüchse auf meinem Balkon ausgesät habe, wenige Meter entfernt vom Landwirtschaftsministerium, mehr Hoffnung, als die kurzlebigen Pläne des staatlichen Unternehmens Acopio? Weil dieser Kohlkopf in Freiheit wächst; weil er nicht antwortet, wenn man ihn fragt; und weil er den offiziellen Statistiken nicht gefallen muss, die irgendein Führer von einer Tribüne herab verkündet und sich damit brüstet.

Es ist nur Weißkohl, und wir sind nur Menschen, die einen Krautkopf ernten, der weiß, dass die Erde uns viel mehr geben könnte, der aber nicht auf Ideologien und Verstaatlichung reagiert und nichts von Parteien versteht. Hungernde Münder brauchen mehr Kohl, so wie er eben ist.

            Übersetzung: Dieter Schubert

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