Die Kunst des Zusammenlebens

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Gestern war der Tag der Landstraße. Zwei Stunden bis nach Pinar del Río und nachts zurück auf der Asphaltstraße, die diese Stadt von dem lärmenden Havanna trennt. Der Wind, der durchs Autofenster hereinkommt und aus meinen Haaren ein Gestrüpp macht. Die Erschütterung im Nacken, jedes Mal wenn das Auto ein Schlagloch trifft, und der Schreck, den die dunkle und nasse Autobahn, die durch Kontrollpunkte der Polizei gesprenkelt ist, einem einjagt. Aber das waren nur vorübergehende Belästigungen, die vergessen sind, sobald ich an den Innenhof von Karina denke voller Mitglieder und Freunde der Zeitschrift Convivencia (Zusammenleben). Gestern Abend wurden die Ergebnisse des Wettbewerbs, der von dieser Publikation organisiert worden ist, veröffentlicht. Dabei wurden Werke aus der Kategorie Essay, audiovisuelles Drehbuch, Dichtung, Erzählung und Fotographie ausgezeichnet.
Reinaldo und ich waren Teil der Jury neben Ángel Santiesteban, Maikel Iglesias und Orlando Luis Pardo. Am Nachmittag beratschlagten wir uns über die Texte und Bilder, die wir jeder für sich über Wochen bewertet hatten und von denen einige unter der griechischen Mythologie entlehnten Pseudonymen daherkamen. Beim Öffnen der Umschläge mit den wirklichen Namen der Wettbewerbsteilnehmer freute es uns zu erfahren, dass unter den Gewinnern nicht nur bekannte, sondern auch junge Autoren waren, die zum ersten Mal ihre Arbeiten zu einem Wettbewerb geschickt hatten. Ungefähr um neun wurden die Gewinner in dem einzigen Teil des Innenhofs bekannt gegeben, den das Wohngesetz der Familie von Karina nicht weggenommen hat. Gegenüber der Mauer, die von der Eingreiftruppe schon vor Monaten errichtet worden war, erklangen Sätze, wie Meißel und Bohrer, die jede Mauer durchdringen. Für einige Stunden war es, als ob die hässliche Mauer aus Backsteinen und Zinkplatten nicht da wäre, als ob wir sie durch Worte eingerissen hätten.
Die Gewinner des Wettbewerbs Convivencia:
Der Preis für das beste Buch mit Erzählungen ging an Francis Sánchez Rodríguez für “La salida” (Der Ausgang).
Der Preis für den besten Essay ging an Dimas Castellanos Martí für “Utopía, retos y dificultades en la Cuba de hoy” (Utopie, Herausforderungen und Schwierigkeiten im Kuba von heute).

Der Preis für den besten Gedichtband ging an Pedro Lázaro Martínez Martínez für “Esto no es un arte poética…” (Das ist keine Dichtkunst).
Der Preis für das beste Film-Drehbuch ging an Henry Constantin Ferreiro für “Cuando termina el otro mundo” (Wenn die andere Welt zu Ende geht).
Der Preis für das beste dreiteilige Foto ging an Ángel Martínez Capote für “Impotencia” (Machtlosigkeit).

Übers: Iris Wißmüller
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Oma und Opa ruhen in meinem Garten

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Eine bläuliche Vase ragt seit einigen Tagen zwischen den Pflanzen unseres Balkongartens im vierzehnten Stock hervor. Wir wissen immer noch nicht genau, was wir mit der Asche meiner Großeltern machen sollen. Im Moment sind sie zwischen dem Farn und dem Schatten einer hohen Yagruma untergebracht, welche die Balkonwand überragt. Meine Mutter hatte es unter Ausspielen ihrer Beziehungen und durch Bestechung der zuständigen Beamten geschafft, ihre Eltern einäschern zu lassen, die in einem öffentlichen Grab auf dem Columbus- Friedhof beerdigt lagen. Nach der Feuerbestattung wurden die Reste in einen Tonbehälter gegeben, bei dem man jedem Zentimeter ansieht, dass er die Überreste eines Menschen enthält.

In der Amphore befinden sich Ana und Eliseo, die Großeltern, bei denen ich in einem kleinen Zimmer in Centro Havaba geboren und aufgewachsen bin. Sie wusch und bügelte für die Leute, er arbeitete bei der Eisenbahn und rauchte seine Pfeife vor den beiden neugierigen Mädchen, meiner Schwester und mir. Beide konnten kaum schreiben und lesen und haben eine kleine Familie groß gezogen dank Waschbrett und Seife, Pickel und Schaufel auf den Bahndämmen. Beide strahlten eine Mischung von Gutmütigkeit und Autorität aus, die sie uns gleichzeitig hat lieben und fürchten lassen. Sie hatten asturisches und kanarisches Blut, vielleicht gefielen deshalb „Papán“ die Dorffeste so sehr und vielleicht wurde Ana deshalb in dem Viertel von allen nur „die Galizierin“ genannt. Ihr wichtigster Besitz war ein Kleiderschrank, ein Bett aus Mahagoni und einer Vitrine mit Gläsern, die wir nie benutzen durften, da sie nur dazu da waren, das winzige Wohn-, Ess- und Schlafzimmer zu schmücken.

Opa starb im Jahr des Exodus von Mariel*. Sein Herz war sozusagen mit dem Fett gebratener Schweineschwarten, die er so sehr liebte, ausgepolstert. Er ging in Frieden und hinterließ Ana in ihrem neuen Stand als Witwe, zumindest für fünf Jahre. Der Abschied von ihr war viel trauriger: sie saß am falschen Platz in der Cafeteria „El Lluera“, als ein paar Betrunkene hereinkamen und mit Flaschen um sich warfen, von denen eine sie an der Stirn traf. Der Lebensabschnitt mit Großeltern war für uns schnell zu Ende. Wir mussten der Verwöhnung, den von geschickten Händen gestopften Strümpfen und der warmen Milch, die sie uns ans Bett brachten, adieu sagen. In der ganzen Zeit war ich kein einziges Mal an ihrem Grab, damit der graue Granit die Erinnerungen an sie nicht verdrängen konnte. Heute sind sie, dickköpfig wie immer, zu mir zurückgekehrt, in einem kleinen Gefäß, das so einfach und unbedeutend erscheint wie ihr Leben selbst.

Anm. d. Ü.
* Der Hafen von Mariel ist der zu den USA nächstgelegene. Im Jahre 1980 flüchteten von hier rund 125.000 Kubaner nach USA.

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Staubige Aufzeichnungen

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Mehrere Tage lang übte ich mit meinem Sohn für seine Abschlussprüfungen der Sekundarstufe. Ich entstaubte meine Kenntnisse über Quadratfunktionen, Formeln zum Berechnen der Gesamtoberfläche einer Pyramide und Faktorteilung. Nachdem ich mich mehr als zwanzig Jahre nicht mehr mit diesen komplexen mathematischen Fragen auseinander gesetzt hatte, reaktivierte ich meine Neuronen, um ihm bei seiner Vorbereitung zu helfen und so die hohen Kosten für einen Nachhilfelehrer zu umgehen. Mehr als einmal während dieser Tage des Studiums war ich kurz davor aufzugeben, einfach weil die Zahlen nicht gerade meine Stärke sind. Aber ich widerstand.

Erst als Teo von seiner schwierigsten Prüfung mit der Aussage, es sei gut gelaufen, zurückkam, fühlte ich mich erleichtert. Viele seiner Klassenkameraden sind nämlich in Gefahr, die Klasse wiederholen zu müssen. Der Grund dafür ist, dass die Schüler auf der Mittelstufe in drei Jahren drei unterschiedliche Prüfungsverfahren über sich ergehen lassen mussten. Es traf sie auch die mangelnde Ausbildung der so genannten Ersatzlehrer und die langen Stunden Videounterrichts. Seit zwei Semestern hat die Gruppe, in der mein Sohn ist, weder einen Englisch- noch einen Informatiklehrer und die Sportstunde besteht aus einer Stunde Herumtobens auf dem Schulhof ohne Aufsicht. Die mangelnden Anforderungen und die schlechte Schulqualität haben dazu geführt, dass die Eltern die unzähligen noch verbleibenden Wissenslücken ihrer Kinder selbst stopfen müssen.

Glücklicherweise gehört die Schule von Teo nicht zu den schlechtesten. Obwohl der Toilettengeruch sich in Wänden und Kleidung eingenistet hat, weil niemand als Putzkraft für den Hungerlohn, den sie zahlen, arbeiten will, gibt es wenigstens nicht so viel Willkür wie an anderen Schulen von Havanna. Auch werden keine guten Noten ge- und verkauft und das empfinde ich als Erleichterung. Diese Praxis trifft man nämlich immer öfter in den Lehranstalten. Die Lehrer, die er hatte, sind trotz ihrer schlechten Ausbildung Menschen von umgänglichem Charakter, und die Elterngemeinschaft versuchte sie zu unterstützen. Im Vergleich mit den Problemen, die eine Freundin mit einer Tochter in einer polytechnischen Schule hat, könnten wir uns, was den moralischen Zustand der Sekundarschule unseres Sprösslings betrifft, glücklich schätzen. Wie sie mir erzählt, ist der Austausch von Sex zwischen den heranwachsenden Mädchen und den Lehrern zur Gewohnheit geworden, um eine Klasse zu bestehen. Jede Prüfung hat einen Tarif und wenige bleiben unbeeindruckt angesichts des verführerischen Angebots eines Handys oder eines Paares von Adidasschuhen im Tausch gegen eine hervorragende Note.

Ich habe bis jetzt das dornenreiche Thema „Niedergang des Schulsystems“ gemieden, weil ich, wie ich zugeben muss, befürchtete, dass mein Sohn unter den Meinungsäußerungen seiner Mutter leiden könnte. Während der drei Jahre, die er in der Unterstufe des Gymnasiums war, habe ich kaum ein paar kritische Äußerungen über den Zustand der schulischen Infrastruktur losgelassen, aber jetzt halte ich es nicht mehr aus. Sie werden die Akademiker von morgen sein, die Ärzte, die unseren Körper auf ihrem Chirurgentisch liegen haben, die Ingenieure, die unsere Häuser bauen, die Künstler, die unsere Seele mit ihrem Schaffen zu nähren suchen. Doch diese furchtbar schlechte Basisausbildung stellt all dies in Frage. Wir wollen uns nicht mehr damit zufrieden geben, dass unsere Kinder, solange sie die Schulbank drücken, wenigstens von der Straße weg sind und somit anderen Gefahren nicht ausgeliefert sind. Zwischen den Wänden der Klassenzimmer können sich sehr gravierende Untugenden, bleibende ethische Schäden und eine Mittelmäßigkeit alarmierenden Ausmaßes entwickeln. Angesichts dieser Situation dürfen die Eltern nicht länger schweigen.

Übersetzung: Iris Wißmüller
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Ein bisschen Gefühl zum Ausleihen

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Der Mann kam in den kleinen Buchladen „El Cóndor“, dessen Schaufenster sich gegenüber der Mauer befindet, die an die Züricher Universität grenzt. „Ich suche Bücher von Corín Tellado“, murmelte er leise und ich schrak am Computer hoch, an dem ich die neuesten aus Buenos Aires, Madrid oder Mexiko-Stadt stammenden Titel eintippte. An seiner Sprechweise hörte man noch den Akzent aus Havanna, vielleicht weil er erst kurze Zeit mit dem Schweizerdeutsch Umgang hatte, das seinen Wörtern schließlich einen anderen Tonfall geben würde. Er sagte, dass er aus dem Stadtteil La Víbora komme und außerdem dringend einige spanische Zeitschriften im Stile von Hola brauche.

María Mariotti, die Besitzerin des Ladens, trat auf ihn zu und erklärte, dass sie weder das eine noch das andere habe, es aber beim Verteiler bestellen könne. „Welche Titel möchten Sie?“, fragte die kleine Frau, halb peruanischer, halb japanischer Abstammung. „Alle die man kriegen kann. Sie sind für meine Mama. Sie lebt davon“, erklärte er und versuchte damit sein eindringliches Interesse für Liebesschnulzen zu erklären. Er erzählte, dass er, da er kein Geld nach Kuba senden könne, jeden Monat versuche, seiner Familie neue Publikationen zukommen zu lassen, damit sie sie gegen eine Gebühr an andere verleihen könnten. Das neu entstandene Geschäft bestand daraus, Zeitschriften wie Vanidades oder Gente für fünf Pesos Cubanos an eine breite Leserschaft zu verleihen, die den neuesten Ausgaben entgegenfieberte. Die Kunden konnten die gewünschten Texte eine Woche lang behalten und diese zirkulierten dann von Hand zu Hand, bis der Verschleiß dazu zwang, die Zeitschriften aus dem Umlauf zu nehmen.

Einige Tage nach dieser eigenartigen Bitte, fuhr meine Freundin zur Buchmesse nach Barcelona (2003), wo María del Socorro Tellando Lopez geehrt wurde. Sie schaffte es, sich ihr zu nähern, und erzählte ihr von der Familie am anderen Ende des Atlantiks, die dank ihrer Schreibfeder jeden Monat über die Runden kommt. Die Autorin von Doloroso engaño (1990) war so beeindruckt von der Geschichte, dass sie ihr eine Auswahl von 50 Exemplaren ihrer Titel und einen handgeschrieben Brief an die Dame von La Víbora überreichte. Dieses Geschenk versetzte die schweizer Buchhändlerin und besonders natürlich den Sohn der alternativen Bibliothekarin vor Dankbarkeit in einen Freudentaumel. Er wusste genau, welchen Wert jene neuen Exemplare für die Kollektion seiner Mutter darstellten. Die Seiten würden einem heruntergekommenen Haus in Havanna zu mehr Seife, etwas Öl, ein wenig Brot, den Kinder zu Schuhen und Dutzenden von Nachbarn zu Träumen verhelfen.

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Fischaugen

Sie sind da, um uns zu beobachten und uns aufzunehmen. Dutzende, Hunderte von Kameras, verteilt auf die ganze Stadt, so als ob die Lastwagen voller Polizisten nicht schon genügen würden, die CDR* in jedem Viertel und die Sicherheitsbeamten mit ihren karierten Hemden. Sie sind mit einer Effizienz installiert, die man selten bei irgendeinem Projekt zum Wohl der Bevölkerung sieht. Die hoch entwickelten Geräte tauchen ebenso in einer Straße auf, wo die Hälfte der Häuser am Einstürzen ist, wie in den modernen Tourismusenklaven oder in der luxuriösen 5. Avenue. Sie erfassen jemanden, der mit Rindfleisch handelt, der Drogen verkauft oder eine Goldkette entreißt. Aber sie beobachten auch diejenigen, die keine Waffen unter dem Bett, sondern Meinungen in ihrem Kopf haben.

Am Anfang, als diese “Fischaugen” überall installiert wurden, schufen sie unter den Habaneros ein Gefühl der Lähmung. Ich weiß noch, wie ich die blinden Flecken suchte, wo ihre Glaslinsen mich nicht erfassen konnten. Später wurde ich etwas lockerer und lernte, mit ihnen zu leben, allerdings verspürte ich immer noch diesen Kitzel im Nacken, den das Wissen, beobachtet zu werden, hervorruft. Unter den Spekulationen, die um diese Filmapparate kreisen, gibt es auch folgende: sie besäßen ein anthropometrisches Erkennungsprogramm für Gesichter, die schon in einer Datenbank gespeichert seien. Aber solche Bemerkungen könnten genauso gut zum Phantasiebereich gehören, der sich um alles Neue rankt.

Diese Kameras in der Öffentlichkeit, eine Materialisation der orwellschen Fernsehbildschirme, haben eine neue Kinowelt ins Leben gerufen. Obwohl sie grundsätzlich automatisch funktionieren, haben einige Leute ihren Inhalt in die alternativen Informationsnetzwerke eingespeist. Dutzende von Bildern entspringen den Polizeiarchiven und zirkulieren jetzt in diesem Moment mit Hilfe der USB-Sticks. Videos, in denen man sieht, wie wir gegen das Gesetz verstoßen und überleben, stehlen und rebellieren. Minuten von polizeilicher Gewaltanwendung, von Autounfällen und Prostitution zwischen sehr jungen Burschen und Touristen, die doppelt so alt sind. Ein kompletter Querschnitt von beeindruckenden Sensations- und Gewaltfilmen, der seit Wochen von einem Bildschirm zum anderen wandert, von Handys zu DVD- Spielern überspringt.
Ohne es zu beabsichtigen, hat die Polizei uns das härteste Zeugnis, das man über unsere Gegenwart ablegen kann, zur Verfügung gestellt. Eine Szenenfolge, die ohne Zweifel in dem visuellen Gedächtnis dieses Landes gespeichert bleibt.

Anm. d. Ü.
* Comité de Defensa de la Revolución. Komitee zur Verteidigung der Revolution, 1960 gegründete kubanische Massenorganisation, die sowohl soziale Aufgaben als auch Spitzelaufgaben übernimmt.
Übersetzung: Iris Wißmüller
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In eigener Sache

Liebe Leserinnen und Leser der deutschen Seite von Yoanis Blog,

vielleicht gibt es jemanden unter euch, der sich mit Word Press gut auskennt. Wir haben nämlich das Problem, dass manche Kommentare nicht sofort beim Hochladen erscheinen und dadurch erst mit Verzögerung reingesetzt werden können. Dieser Umstand führt dazu, dass so wenig kommentiert wird. Es wäre nett, wenn sich entsprechende Spezialisten unter: iris.wissmueller@gmx.de melden könnten.

Bis dahin haben wir es ab jetzt so organisiert, dass ein Kommentar, der zu normalen Arbeitszeiten auftaucht, auch binnen kurzem hochgeladen wird. Wir tun unser bestes.

Vielleicht kann diese Information doch den einen oder anderen der täglich über Tausend Leser dazu animieren, seine Meinung zu äußern. Wir würden uns freuen.

Mit erwartungsvollen Grüßen

Iris Wißmüller

Ich werde nach Jequié fahren

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Nach einer Absage versucht es die Mehrheit der Leute, die eine Reiseerlaubnis beantragen, nicht noch einmal. Wenige, sehr wenige beharren weiterhin darauf, nachdem sie schon mehr als drei Mal den knappen Satz gehört haben: „Sie haben keine Reiseerlaubnis“. Nur eine Hand voll Dickköpfe, zu denen ich mich rechne, geht trotzdem wieder zum Einwanderungs- und Ausländeramt (DIE), um die so genannte weiße Karte zu verlangen, obwohl sie ihnen schon bei vier Gelegenheiten verweigert worden ist. Auch wenn es mit jedem neuen Antrag scheint, dass die Möglichkeit in noch weitere Ferne rückt, verspüre ich den Impuls, eines klar zu stellen: schuld an meinem Eingesperrtsein auf dieser Insel soll nicht sein, dass ich nicht alle legalen Wege ausgeschöpft hätte.

Mit dieser Einstellung, das Unmögliche zu versuchen, habe ich mich einem weiteren Behördengang zum DIE im Stadtteil Plaza unterzogen, um in die Stadt Jequié-Bahía in Brasilien zu reisen. Im Juli findet dort ein Dokumentfilmfestival statt, bei dem ein junger Regisseur einen Kurzfilm über kubanische Blogger präsentieren wird. Wenn ich es versäume, dann deswegen, weil ich das sechste „Nein“ in kaum zwei Jahren als Antwort erhalten habe. Wie bei all den vorhergehenden Behördengängen ist das Einladungsschreiben rechtzeitig gekommen, mein Pass ist gültig und mein Strafregister ist immer noch sauber. Theoretisch erfülle ich alle nötigen Voraussetzungen, um die Staatsgrenze zu überschreiten. Ich gebe allerdings immer noch kritische Meinungsäußerungen von mir und das macht mich bereits zu einer besonderen Art von Delinquenten.

Ich habe beschlossen, für diese Reise an so viele Türen wie möglich zu klopfen. Ich schickte sogar einen Brief an den brasilianischen Präsidenten Luis Inácio Lula da Silva. Wer weiß, vielleicht hat die Regierung meines Landes, die kaum Forderungen ihrer eigenen Bürger zu hören bekommt, offene Ohren für die Worte eines ausländischen Würdenträgers. Meine Freunde deuten an, dass ich bereits ein Teil der „unbeweglichen Betriebsmittel“ geworden sei mit einer Blechnummer auf den Schulterblättern wie diese Möbel, die zum Inventar von staatlichen Behörden gehören. Angesichts solcher Scherze bleibt mir nur, zu schmunzeln und die Verzweiflung mit einem netten Wortspiel abzuschütteln: „ich werde (wegfahren), ja … ich werde mich daran gewöhnen da zu bleiben“*.

Anm. d.Ü.
* me voy heißt hier „ich fahre weg“ und „ich werde (mich daran gewöhnen)“. Dieses Wortspiel ist im Deutschen nicht nachzuahmen.

Übersetzung: Iris Wißmüller, iris.wissmueller@gmx.de

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Modellstadt

Die Zuckerfabrik liegt in Trümmern, die Hauptstraße ist ausgestorben und im Inneren der Häuser wohnt die Vergangenheit in den Erinnerungen. „Vom Modelldorf zum Geisterdorf“, murmeln die Leute, die noch in der Ortschaft Hershey leben, denn der frühere Glanz ist zum Rückzugsort der Nostalgie geworden. Dank des Talentes einiger junger Regisseure taucht das kleine Dorf heute wieder auf, porträtiert in einem kurzen Dokumentarfilm, der die Augen feucht werden lässt und den Schlund eng. Ein Spaziergang durch die Sehnsucht von Hunderten von Menschen, für die die Zukunft eindeutig nicht zu einer besseren Zeit wurde.

Der eigentümliche Ort wurde nach einem modernen städtebaulichen Raster gebaut, eine prosperierende Zuckerindustrie, eine Schokoladenfabrik und eine elektrische Bahn, die quietschend und Funken sprühend immer noch herumfährt. All das in einem kleinen, aber funktionsgerechten Format, als ob man ein Dutzend Puppenhäuser mit Satteldach in Reihe auf dem Rasen aufgestellt hätte. Dank der Initiative von Milton Hershey, 1857 in einem Dorf in Pensilvania geboren, wurde der Bau dieser seltsamen Ansiedlung auf dem Hügel von Santa Cruz im Osten unserer Hauptstadt begonnen.

Der Wohlstand von gestern und die Trägheit von heute sind die Akkorde zwischen denen sich der Kurzfilm von Laimir Fano bewegt. Er wurde im Chaplinkino bei einer Veranstaltung gezeigt, an der mehrere Blogger nicht teilnehmen durften. Glücklicherweise zirkulieren seine bewegenden 15 Minuten bereits in den alternativen Informationsverteilernetzwerken. Für sie muss man nicht die Anforderungen von bestimmten kulturellen Einrichtungen erfüllen, um das „Recht auf Zulassung“ zu erhalten. Eine wunderbare Auswahl von Bildern in Verbindung mit einer mutigen Arbeit, was Ton und Musik betrifft, bringt es fertig, uns in dieses Dörfchen zu versetzen, das in Melancholie versinkt. Die Schokolade agiert als Auslöser für die Gefühle der Protagonisten, während wir Zuschauer vor dem Bildschirm ihr Aroma, die Textur der Erinnerung, in Pralinenpapier eingewickelt, spüren können.

Übers. Iris Wißmüller , iris.wissmueller@gmx.de

Die Physik irrt sich selten

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Auf Schritt und Tritt höre ich, wie Leute sich über die Hitze beklagen, deren klebrige Präsenz sich in Verbindung mit der Trockenheit noch schwerer ertragen lässt. Wir wissen alle, was im Inneren eines Dampfkessels passiert, wenn man die Temperatur erhöht. So lassen sich wohl für diesen Sommer Probleme und Spannungen voraussagen. Der Juni hat in der Erwartung auf Veränderungen begonnen, die mit einer ermüdenden Langsamkeit ablaufen, mit einer Trägheit, die die Situation noch verschlimmert. Seit den ersten Tagen dieses Monats haben einige Friseure die Erlaubnis, ihren Arbeitsplatz selbstständig zu nutzen. Sie sind keine Angestellten des Staates mehr, müssen ihm aber festgesetzte und ziemlich hohe Steuern zahlen. Einerseits gewinnen die neuen Selbstständigen an Autonomie, aber andererseits hat sich der Preis für einen Haarschnitt fast verdoppelt, weil sie jetzt für die Ladenmiete selbst aufkommen müssen, ans Finanzamt Abgaben zahlen müssen und versuchen müssen, für sich irgendeinen Gewinn zu erzielen.
Die Sache, die am schwerfälligsten voranzukommen scheint, ist die erwartete Freilassung von politischen Gefangenen, heftig kommentiert in der ausländischen, aber totgeschwiegen in der nationalen Presse. Man nahm an, dass schon in diesen Tagen jene Männer das Gefängnis verlassen würden, von denen sogar Silvio Rodríguez selbst zugegeben hat, dass sie „zu harte“ Strafen erhalten haben. Die Überführung von sechs von ihnen in andere Gefängnisse näher an ihren Wohnorten riecht nach einem Verzögerungsmanöver, nach offizieller Verspottung von so großen Erwartungen. Es genügt nicht, Veränderungen zu fordern. Man muss ihre bald mögliche Umsetzung vorantreiben, weil eine Verzögerung bei dem besonderen chemischen Gemisch unserer aktuellen Situation ein explosives Element sein könnte.
Obendrein ist dieser Sommer ohne den üblichen Regen gekommen, stattdessen mit Ventilatoren, die den ganzen Tag lang summen, und mit Stromrechnungen, die unseren Lohn auffressen. Man verspürt eine permanente Hitzewallung in den langen Schlangen an den Omnibushaltestellen, eine Schwüle, die uns bei der eh schon mühsamen Suche nach Nahrungsmitteln begleitet. Fächer, die nur heiße Luft auf unsere Gesichter fächeln, Duschen mit Eimer und Becher*, nach denen sich sofort wieder Schweißtropfen auf der Haut bilden. Das sind Tage, an denen meine Freunde die Geduld verlieren und in den Familienpapieren suchen, ob sich der Geburtsschein des spanischen Großvaters finden lässt. In den Augen vieler liest man den unausgesprochenen Satz: „Ich kann nicht mehr“. Bleibt ruhig, sage ich zu ihnen, vielleicht ist die Hitze der Katalysator, der uns fehlt, der Anstoß, den eine lethargisch gewordenen Bevölkerung braucht, um zu fordern, dass die versprochenen Öffnungen keinen Monat länger auf sich warten lassen.

Anm. d. Ü.
*Aus Wassermangel kippt man sich das mit einem Becher aus einem Eimer geschöpfte Wasser über den Körper.

Übersetzung:
Iris Wißmüller, iris.wissmueller@gmx.de