
YOANI SÁNCHEZ / La Habana / 18.September 2021
Ich hielt den Zug an. Das ist keine Metapher. Bei Tagesanbruch kam ich mit meiner Mutter und meiner Schwester auf den Bahnsteig. Die Angestellten der Station und der Weichensteller sagten uns, dass es keine festen Abfahrtszeiten gäbe. Das galt für die anderen, wir aber waren keine gewöhnlichen Sterblichen: mein Vater war der Lokomotivführer, er fuhr die Lokomotive, er lenkte die Schlange aus Eisen, die schließlich dienstbeflissen bremsend vor unseren Füßen zum Stehen kam.
Ich war die Tochter eines Helden. Er trug keine Flinte, sondern steuerte das Monster aus Metall, das die Fantasie aller Kinder beflügelte. Der Unterschied war, dass ich ihn zu Hause hatte, ich brauchte nicht zu fantasieren. Jene träumten von einem Lokführer, ich erlebte ihn jeden Tag: seine langen und zermürbenden Arbeitstage, wenn er nicht nach Hause kam, das Fest bei seiner Rückkehr und die Furcht, dass er an einem gefährlichen Knotenpunkt sein Leben verlieren würde.
Um vier Uhr morgens auf einem Bahnsteig gibt es niemand. Nur dich und den Glauben, dass jemand kommt um dich mitzunehmen. Aber daran zweifelten wir nicht. Was auch immer passiert, was immer sie auch sagen…bald wird ein schnaubendes Monster hier auftauchen. Wer ließ uns dies glauben? Mein Vater; er versicherte uns, dass er da sein würde, trotz der beinahe-Zusammenstöße, unerwarteter Vorkommnisse und möglicher Entgleisungen. Wir hatten Vertrauen zu ihm.
Jene träumten von einem Lokführer, ich erlebte ihn jeden Tag: seine langen und zermürbenden Arbeitstage, wenn er nicht nach Hause kam, und das Fest bei seiner Rückkehr.
Hier waren wir, ohne zu zweifeln. Meine Mutter meine Schwester und ich hielten uns an den Händen, inmitten dieser Mischung aus Feuchtigkeit und Zirpen der Zikaden, wie es Bahnstationen „im kubanischen Nichts“ sind. Wir wussten, dass das Schicksal uns unseren eigenen Titan aus Eisen und Stahl und einem Signalhorn geschenkt hatte.
Zunächst war es nur der feste Glauben; dann kam ein leichter Wind, der die Haare hinter die Ohren wehte und uns in ein Aroma hüllte. Es roch nach Roheisen. So nennt man den „Duft“, den die Reibung von Metall auf Metall verströmt, wenn ein Konvoi mit vielen Waggons auf den Schienen zum Stehen kommt. Es riecht nach Roheisen; ein Wort, das die Gilde der Bahnleute gut kennt, obwohl es für viele Menschen merkwürdig und neuartig klingt.
Meine Großmutter mütterlicherseits kannte das Wort gut, weil sie ständig die Uniformen ihres Mannes waschen musste, auch er ein Eisenbahner.
Ana kannte den „Mief“ gut, der entsteht, wenn jemand in der Führerkabine die Bremse einer Lokomotive zieht, die Dutzende von Waggons schleppt und die dann auf den Schienen kreischen. Das erzeugt außerdem eigenartige kleine Körnchen, sie sind schwarz und fühlen sich hart an, wenn man sie mit den Fingern vom Gesicht abstreift. Es handelt sich um ein Abfallprodukt der Eisenbahn am menschlichen Körper.
Es war die Zeit, in der man Wäsche stärkte und Ana machte das sehr gut. Sie war darin die Beste. Sie stärkte die Ränder der Hemden für meinen Großvater und meinen Vater. Beide hatten ein Emblem auf ihrer Tasche aus grauem Tuch, das uns faszinierte; es war ein weißes Rechteck mit einer in schwarz darauf gestickten Lokomotive, die Rauch ausstieß. Ich wollte immer einen Zug führen (und mehrmals tat ich es auch).
Mein Großvater hatte die „Hand einer Puppe“. Einmal, bei einem bevorstehenden Zusammenstoß, sprang er von der Lokomotive ab, aber sein Ring blieb an einem abstehenden metallischen Teil hängen. Später zeigte er uns wie ein Zauberer seine Hand mit vier Fingern und wir, naive Kinder, lachten darüber. Es waren Kriegsverletzungen unserer Leute, bleibende Schäden des Eisenbahner-Clans.
Seine Lokomotive hatte eine Ziegenherde überfahren; er konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen. Wir, seine Töchter, stürzten uns auf das Festmahl; wir hatten großen Hunger und er wusste es.
Aber nicht alles waren Scherze oder Anekdoten. Eines Tages riefen uns Nachbarn an, um uns ihr Beileid auszusprechen. Offensichtlich war ich bei einem Zugunfall zu Tode gekommen. Es war mein Vor-und Nachname, aber es war nicht ich, sondern ein Cousin identisch gleichen Namens und jünger als ich; er hatte bei einem Zusammenstoß sein junges Leben verloren, wie auch sein Vater der Lokführer. Bei uns vermehrten sich die Narben.
Mitte der neunziger Jahre kam mein Vater nach Hause, machte ein mürrisches Gesicht und seine Weste roch nach Blut. Seine Lokomotive hatte eine Ziegenherde überfahren; er konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen. Wir, seine Töchter, stürzten uns auf das Festmahl; wir hatten großen Hunger und er wusste es. Er war ein fürsorglicher Vater; mit diesen Fleisch-und Knochenteilen brachte er uns seinen letzten „Jagderfolg“. Wenig später beendete die Kubanische Eisenbahn endgültig ihr Dasein und die Lokomotive unseres Lebens stand still.
Dennoch, der Geruch bleibt. Meine Familie riecht nach Roheisen. Mein Vater starb kaum eine Woche später und ich ging zurück auf den symbolbeladenen Bahnsteig und wartete. Zunächst kam der Wind und schüttelte meine kurzen Haare. Die Tochter eines Eisenbahners kennt nur einen Duft, den Balsam ihrer Existenz. Den hatte ich wahrgenommen als ich im Morgengrauen vor den Gleisen stand und unbekannte Stimmen mir versicherten, dass der Zug nicht halten würde, aber ich wusste, dass er dies tun würde: ich konnte sein Kommen schon riechen.
Übersetzung: Dieter Schubert
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