Überwältigt von der Realität

Die Warteschlange am Montag vor einer Bank in Havanna. (14ymedio)

14ymedio biggerYOANI SÁNCHEZ / La Habana / 17. August 2020

Das Scheitern der Tests für die Implementierung von Internet auf mobilen Telefonen „war einem Übermaß an Bedarf geschuldet“; so Etecsa, das staatlichen Monopol für Telekommunikation. Die Plattform TuEnvio, zuständig für den Interhandel, kollabierte kurz nach dem Ausbruch der Pandemie, wegen der Zunahme an Käufen, und jetzt stellt Finimex die Lieferung von Magnetkarten ein, mit denen man in Geschäften mit Fremdwährung einkaufen kann, weil eine Flut von Anträgen ihre Bestände erschöpft hat.

Wenn sich die Fälle häufen in denen staatliche Unternehmen ihre Hilflosigkeit bei einer überraschenden Nachfrage rechtfertigen, dann muss man daraus schließen, dass die Behörden den Bedarf und die Wünsche des nationalen Marktes nicht kennen. Das ist in einer Planwirtschaft schwer zu glauben, für die es − theoretisch − leichter ist, den Umfang und die Intensität zu berechnen, mit der ein Produkt oder eine Dienstleistung nachgefragt wird.

Soviel unternehmerische Blindheit ist das Resultat mehrerer Faktoren, die die behäbige und unbehelligte Wirtschaftsführung auf der Insel bestimmen. Ein Faktor ist das maßlose Triumphiergehabe, das Funktionäre und Minister an eine Pseudo-Realität glauben lässt, die Reden und offizielle Medien aufrechterhalten. Bei so viel Wiederholen von „wir können das“ und dem Hinausposaunen von inflationären Produktions-oder Entwicklungszahlen, entwickeln diese Hierarchien Pläne, die mehr angepasst sind an das, was sein sollte, als an das, was tatsächlich ist.

Der Unterschied zwischen dem Erträumten und dem Möglichen endet schließlich, wenn die Kette an ihrem schwächsten Glied bricht, bei dem Nutzer jener staatlichen Unternehmen.

 Der Unterschied zwischen dem Erträumten und dem Möglichen endet schließlich, wenn die Kette an ihrem schwächsten Glied bricht; bei dem Nutzer jener staatlichen Unternehmen, die ihr Potential schlecht berechnet und zugleich das Recht des Kunden unterschätzt haben, gut behandelt zu werden. Jetzt gibt es Reklamationen: Telefone, die in den Büros der staatlichen Körperschaften stundenlang läuten, ohne dass jemand abhebt; Versuche, die Bürger für ihre Disziplinlosigkeit und Ängstlichkeit zu beschuldigen, und wiederholte Rechtfertigungen, „dass wir uns nicht vorstellen konnten, dass es so viele Bestellungen geben würde“.

Der entscheidende Grund für diese Stümperei resultiert daraus, dass die regierende Klasse das Volk auf der Straße nicht kennt. Für jene, auf ihrer hohen Warte mit Privilegien und Annehmlichkeiten, sollten wir Kubaner uns wie bescheidene Wesen verhalten, die akzeptieren was immer auch kommt, ohne Forderungen und Beschwerden. Wie ein Individuum ohne Streben nach Wohlstand und ohne besonderen Geschmack, das die staatliche Führung nicht kritisiert und diszipliniert auf das wartet, was ihm der rationierte Markt zuteilt.

Für Minister, Militärs hohe Funktionäre und alle übrigen Verdächtigen, die eine staatliche Pfründe haben, ist es schwierig sich die Aufregung in einer Familie vorzustellen, wenn die irgendeine Chance sieht ihren Alltag auch nur minimal zu verbessern. Jene, denen man kostenlos ein Sortiment an Lebensmitteln und Produkten zur Körperpflege ins Haus liefert, können sich nicht in eine Mutter hineinversetzen, die seit Wochen auf eine Magnetkarte wartet. Dann könnte ihr Sohn ihr einen Geldbetrag überweisen, mit dem sie − nach langen Stunden in einer Warteschlange − Tomatensauce und Waschmittel in einem Geschäft mit Fremdwährung kaufen kann.

Das Problem ist, dass die, die Wirtschaftspolitik des Landes bestimmen und Pläne für Unternehmen festlegen, genau jene sind, die Privilegien haben und kostenlos Annehmlichkeiten erhalten. So gesehen begehen sie ein ums andere Mal denselben Fehler, den Bedarf der Bürger zu unterschätzen und die Nachfrage falsch zu kalkulieren, die irgendein neuer Dienst nach sich zieht. Mit einem vollen Teller, einem Auto mit randvollem Tank und dem kostenlosen Telefondienst, sind sie Lichtjahre von der Galaxie entfernt, die „das wahre Kuba“ ist.

Nein, es ist nicht das Übermaß an Anträgen, das die Dienste kollabieren ließ, sondern die Distanz, die Planer und Kunden trennen.

Übersetzung: Dieter Schubert

 

 

Der Feind steht nicht in 90 Seemeilen Entfernung, sondern in den Warteschlangen.

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Aus verschiedenen Gründen braucht der Castrismus ‚Coleros‘ und Hamsterer; nur so kommen Produkte in Orte, die die staatliche Ineffizienz nicht beliefert. (14ymedio) Coleros sind Personen, die für andere anstehen; von la cola (sp.) = die Warteschlange

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YOANI SÁNCHEZ |La Habana| 3. August 2020

„Mit 180 Tagen Gefängnis werden Spekulanten und Hamsterer von Produkten bestraft“, so der Text eines Gesetzes, das diese Woche hätte verabschiedet werden können, wenn es nicht schon im weit zurückliegenden Jahr 1992 in Kraft getreten wäre. Seit damals, also seit fast sechs Jahrzehnten, werden Wiederverkäufer in der offiziellen kubanischen Sprechweise als die Verursacher der Unterversorgung genannt, während sie in Wirklichkeit nur ein unerwünschter aber notwendiger Nebeneffekt sind.

 In diesem Zusammenhang legte das vom Ministerrat verabschiedete Gesetz 1035 fest, dass eine Person nicht mehr als 11,5 kg eines landwirtschaftlichen Produkts kaufen durfte. Illegal war es auch, eine darüber hinausgehende Menge auf den Straßen und Gehsteigen des Landes zu transportieren, es sei denn mit einem staatlich dazu autorisierten Fahrzeug. Ein Verstoß zog nicht nur eine Gefängnisstrafe von sechs Monaten nach sich, sondern auch die Beschlagnahme des Fahrzeugs.

 Meine Eltern hatten sich noch nicht kennengelernt, meine Geburt war eine infinitesimal kleine Möglichkeit in ferner Zukunft, und schon damals brandmarkten die kubanischen Behörden die ‚Coleros‘ und andere unkonventionelle Händler als die Schuldigen, wenn viele Produkte des täglichen Bedarfs nicht zu Familien mit geringen finanziellen Mitteln gelangen konnten. Diesen Vorwurf hörte ich wieder in den 80er Jahren, als ich ein Kind war, in einem Kuba, das trotz der sowjetischen Subventionen weiterhin an einem periodisch auftretenden Mangel von bestimmten Waren litt.

 Alles Gestikulieren ist nichts weiter als pure Angeberei und eine wohlkalkulierte Kampagne der Ablenkung. Niemand sonst als der kubanische Staat hätte alle Möglichkeiten in der Hand, um solche Praktiken zu beenden.

 Es kamen die 90er Jahre; statt ein ‚mea culpa‘ anzustimmen, weil man auf ein lahmes Pferd gesetzt hatte, was das sozialistische Lager war, bezeichneten die offiziellen Losungen erneut die „Hamsterer im Hinterhof“ und das US-Embargo als die Ursachen für den tief greifenden Mangel, der über uns kam. Die Verantwortung dafür sollte immer anderswohin geschoben werden, weg von der Plaza de la Revolución, weg von der Eigenmächtigkeit Fidel Castros und weg von der grundsätzlichen Ineffizienz des wirtschaftlichen Modells, das uns von oben auferlegt wurde.

 So sind wir in die neue Krise gekommen, in der sich das Drehbuch für die offiziellen Nachrichtensendungen kaum geändert hat, wenn es gilt das Desaster zu erklären, in dem wir heute leben. Jetzt werden die Nachrichten zur besten Sendezeit mit Polizeieinsätzen gegen Händler gefüllt, die krumme Geschäfte mit Autoteilen, Zwiebeln oder Trockenmilch machen. Die Behörden rufen zu Brigaden mit Armbinden auf, die die Warteschlangen überwachen sollen, um zu verhindern, dass eine einzelne Person mehrmals ansteht, die Reihenfolge verkauft oder Freunde einschmuggelt.

 Alles Gestikulieren ist nichts weiter als pure Angeberei und eine wohlkalkulierte Kampagne der Ablenkung. Niemand sonst als der kubanische Staat hätte alle Möglichkeiten in der Hand, um solche Praktiken zu beenden, aber nicht − wie sie uns glauben machen wollen − mit Bestrafung und Unterdrückung. Hamsterer prosperieren und bereichern sich nur dort, wo es Unterversorgung gibt; der Schwarzmarkt für ein Produkt blüht dort, wo dieses fehlt oder verboten ist.

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„Mit 180 Tagen Gefängnis werden Spekulanten und Hamsterer von Produkten bestraft“, so liest man es im Gesetz von 1962.

 Es liegt in Händen des Regimes, diese Quellen, von denen die ‚Coleros‘ und Wiederverkäufer leben, versiegen zu lassen, aber nicht mit noch restriktiveren Gesetzen, sondern mit Flexibilisierungs-Maßnahmen, einer Verminderung der Rolle des Staates in Wirtschaft und Handel und einer Serie von Maßnahmen, die nicht die lästigen Effekte der Krise attackieren, sondern dem ganzen Land dabei helfen, die große „defizitäre Wüste“ zu verlassen, und die des „gibt es nicht“.

 Selbst wenn die Regierung Zähne zeigte und diese ‚Coleros‘ und Hamsterer im Fernsehen als die neuen Gegner hinstellen würde − die es zu vernichten gelte − so ist doch sicher, dass der Castrismus sie aus unterschiedlichen Gründen braucht. Nur so kommen Produkte in Orte, wohin die staatliche Ineffizienz nicht liefern kann. Es handelt sich um Verteilungs-Mechanismen mit definierten Konten, die den Markt regulieren, jedoch nicht auf der Basis von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit, sondern ausgehend von der Nachfrage und der Kaufkraft des Kunden.

 Die, die sich die Dienste der ‚Coleros‘ oder Wiederverkäufer leisten können, leben besser als jene, die über geringe finanzielle Mittel verfügen oder nur ihren Lohn haben, denn sie müssen stundenlang anstehen. Das ähnelt im Grunde genommen einer wirtschaftlichen Apartheit, die durch die Geschäfte auf Devisen-Basis vertieft wird. Der Unterschied ist: im ersten Fall ist das für viele unerschwingliche Angebot in den Händen von Privatpersonen, im andern Fall ist es die Regierung selbst, die es bestimmt und autorisiert.

 Diese neue Razzia gegen heimliche Händler, wie wir sie gerade erleben, ist nichts weiter als eine weitere Pantomime; ein Theaterstück, das im letzten halben Jahrhundert schon ein dutzendmal aufgeführt wurde. Das Einzige was sich geändert hat, ist das Alter oder die Vergesslichkeit der eingeschüchterten Öffentlichkeit, die auf Parkettplätzen dem plumpen Spektakel zusieht.

   Übersetzung: Dieter Schubert