
In einer Gesellschaft, in der viele Angst haben, sich offen zu verhalten und frei zu sprechen, ist Opportunismus zu einer Technik der Besitzstandwahrung geworden. (Thinkstok)
YOANI SÁNCHEZ | La Habana | 19. Dezember 2019
Masken, Tarnung und Heuchelei… in einer Gesellschaft, in der viele Angst haben, sich offen zu verhalten und frei zu sprechen, ist Opportunismus zu einer Technik der Besitzstandwahrung geworden, zu einer wahrhaften Strategie für das soziale, berufliche und politische Überleben. Vor zweiunddreißig Jahren schrieb der Journalist Reinaldo Escobar, damals Kolumnist der Zeitung ‚Juventud Rebelde‘, einen Text, der noch immer schmerzhaft lebendig ist. Sein Artikel mit dem Titel: ‚Es ist opportun, über Opportunismus zu sprechen‘, beschreibt detailliert, wie schädlich diese Praxis ist und wie weitverbreitet sie in der kubanischen Gesellschaft ist.
Escobar definiert drei Stufen, die der Opportunist durchläuft. Die erste ist der Reifeprozess, in der er das Vertrauen seiner Vorgesetzten gewinnen muss, und um dies zu erreichen, wird er zahlreiche Dinge tun müssen, die ihn als einen in der Sache treu Ergebenen zeigen, als einen disziplinierten Kämpfer und gefügigen Verteidiger der offiziellen Linie. Solche Personen kennen wir gut. Sie sind in unserer Nachbarschaft und verraten einen Nachbarn, weil er einen Sack Zement auf dem Schwarzmarkt gekauft hat. Sie beobachten, was andere im Korb haben, nachdem sie auf dem Markt waren; sie applaudieren lautstark bei Versammlungen und Amtshandlungen, oder sie hetzen bei einer „Ablehnungsaktionen“ gegen einen Dissidenten so laut, dass es scheint, als würden ihre Venen am Hals platzen.
Die zweite Stufe des Opportunisten tritt ein, wenn er beginnt, die Früchte seines unterwürfigen Verhaltens zu ernten, wenn er eine Position oder Verantwortung erhält, von der aus er seinen Chefs absolute Bewunderung zeigen wird.
Die zweite Stufe ist erreicht, wenn der Opportunist beginnt die Früchte seines unterwürfigen Verhaltens zu ernten, wenn man ihm ein Amt gibt oder eine Verantwortung, von der aus er seinen Chefs seine uneingeschränkte Bewunderung zeigen wird. Dann wird er zu dem werden, was man im kubanischen Volksmund schlicht und einfach als „guatacón“ (Lakai) oder „chicharrón“ (Schleimer) seines Vorgesetzten bezeichnet. Jetzt wird der Opportunist gefährlicher, denn, um Punkte zu sammeln und um die Anerkennung eines Oberen zu gewinnen, wird er zu vielem bereit sein: zu Beweisen von maßloser Intoleranz, zu exzessiver und vernichtenden Kritik und zu niederträchtigen Aktionen, wie jemand verpfeifen, denunzieren oder verraten.
Sobald dieser Schritt getan ist, beginnt der Opportunist die Ernte einzufahren, als Ergebnis und Prämie für so viel Unterwürfigkeit, so viel „Ja“-sagen und so viel Applaus. Wenn er in eine Machtposition berufen wird, in der er Untergebene hat, denen er befiehlt, und er Vorrechte hat, um sie zu genießen, erreicht er eine Position, die er um jeden Preis erhalten will. Es spielt keine Rolle, wie viel Doppelmoral oder Unsinn es in seinen Worten gibt, die einerseits Opfer predigen, während er andererseits in unmäßigem Komfort lebt. Er ist leicht zu erkennen, denn er ruft seine Mitarbeiter zu Sparsamkeit auf, während sein Haus voll von Waren und Haushaltsgeräten ist, die er bei seinen vielen Reisen importiert hat.

Die Zeichnung des Karikaturisten Carlucho, die zusammen mit dem Text des Journalisten Reinaldo Escobar in der Zeitung ‚Juventud Rebelde‘ veröffentlicht wurde. (Archiv)
Das Problem ist, dass nach so vielen Jahren mit Vortäuschen, Schweigen und Andere zum Schweigen bringen, die Maske am Ende sein eigenes Gesicht ersetzt. Wenn es bei ihm jemals etwas wie Reform, Kritik oder Skepsis gab, dann werden zu viele Jahre des Täuschens diesen Geist ausgelöscht haben. Aber… ist der Opportunismus ein Übel, das es in Kuba nur bei Funktionären, Sachbearbeitern, Ministern, Parteiführern oder hohen Beamten gibt? Ganz und gar nicht, es ist eine Geißel, die weit darüber hinausgeht.
Viele von uns waren in einem Moment unseres Lebens Opportunisten, auf die eine oder andere Weise, weil wir die Maske oder das Schweigen benutzt haben, um soziale Stigmatisierung zu umgehen.
Viele von uns waren in einem Moment unseres Lebens Opportunisten, auf die eine oder andere Weise, weil wir die Maske oder das Schweigen benutzt haben, um soziale Stigmatisierung, eine Abmahnung, eine Strafe oder sogar das Gefängnis zu umgehen. Zu begreifen, dass wir alle für ein gelegentliches Vortäuschen oder einen „Biss“ verantwortlich sind, kann uns helfen, dieses Verhalten zu entlarven. Wir sollten uns nicht über andere stellen und den ersten Stein werfen, denn aus dieser Position wird es sehr schwierig, gegen dieses soziale Übel anzugehen.
Ein Opportunismus ist auch der junge Mann, der sagt: „Ich spreche nicht über Politik“ und sich in seinem Haus einschließt, um seine Zeit mit Videospielen zu verbringen und den Inhalt des wöchentlichen Medienpakts zu konsumieren, während das Kuba vor seiner Tür auseinanderfällt und er ein paar Krümel Subventionen genießt. Ein Opportunist ist der Selbstständige, der am 1. Mai mit einem Schild auf den ‚Platz der Revolution‘ marschiert und das Regime hochleben lässt, um Probleme mit den Inspektoren zu vermeiden, die sein Pizza- oder Eisgeschäft kontrollieren und überwachen.
Opportunisten sind die Patienten und ihre Familien, die schweigend die schlechten Bedingungen in einem Krankenhaus akzeptieren und lieber unter dem Tisch für eine Dienstleistung oder eine bessere Versorgung bezahlen, als laut das zu fordern, was ihnen bei einem öffentlichen Gesundheitsdienst zusteht, den wir alle aus der eigenen Tasche bezahlen. Ein Opportunist ist der Rentner als immer noch militantes Mitglied der Kommunistischen Partei, der sich in den Sitzungen seiner Organisation nicht darüber beklagt, dass seine Rente ihn zum Betteln verurteilt.
Ein Opportunist ist der, der ein Visum in seinem Pass hat, um das Land zu verlassen, der aber nicht in „Schwierigkeiten geraten“ will. Also klagt er nicht über den schlechten Zustand der Straßen und Wege, damit seine Reise nicht noch annulliert wird.
Ein Opportunist ist der, der ein Visum in seinem Pass hat, um das Land zu verlassen, der aber nicht in „Schwierigkeiten geraten“ will. Also klagt er nicht über den schlechten Zustand der Straßen und Wege, damit seine Reise nicht noch annulliert wird und sie ihn ohne Probleme ausreisen lassen. Aber es ist auch opportunistisch, wenn ein Emigrant zurückkehrt, „sich gut benimmt“, während er einige Tage bei seiner Familie verbringt, still ist und alles akzeptiert,…damit nicht passiert, dass sie ihn womöglich nicht wieder in das Land zurückkehren lassen, in dem er seinen neuen Wohnsitz hat.
Eine Opportunistin ist die Mutter, die zu ihrem Sohn sagt, er solle in der Schule nicht erzählen, dass man das verbotene Fernsehen aus Miami zu Hause über eine illegale Satellitenschüssel empfängt, während sie gleichzeitig am politischen Wandbild an ihrem Arbeitsplatz weiterarbeitet. Ebenso opportunistisch ist der Neffe des Kommandanten, des Generals oder des Ministers, der auf Kreuzfahrtschiffen oder Yachten die Welt bereist und eine Ché Guevara-Mütze trägt. Wie Sie sehen ist Opportunismus weiter verbreitet, als wir wahrhaben wollen und er berührt fast alle von uns.
Solange es die Furcht vor Repressalien oder Gefängnis gibt, weil man seine Meinung frei äußert, wird es Opportunisten geben. Solange das System den belohnt der sich verstellt, und den bestraft der kritisiert, wird Kuba eine riesige Farm bleiben, auf der Tausende, Millionen von Opportunisten ausgebrütet werden, jeden Tag.
Übersetzung: Lena Hartwig
Die Mannschaft von 14ymedio engagiert sich für einen seriösen Journalismus, der die Realität in Kuba tiefgreifend wiedergeben möchte. Danke, dass Du uns auf diesem langen Weg begleitest. Wir laden Dich ein, uns auch weiterhin zu unterstützen, indem Du Mitglied unseres Journals wirst. Gemeinsam können wir den Journalismus in Kuba transformieren.