
In der aktuellen Fernsehserie „Chernobyl“ des US-amerikanischen Kanals HBO (Home Box Office) wird der größte Atomunfall der Geschichte rekonstruiert.

YOANI SÁNCHEZ | La Habana | 12. Juni 2019
Ich war 10 Jahre alt und meine Welt war so groß wie die der Matrjoschkas, die mein Wohnzimmer schmückten. Es war 1986 und in Kuba wurde die Schraube der Verstaatlichungen durch den so genannten Prozess der „Korrektur von Fehlern und negativen Tendenzen“ weiter angezogen, wobei die offizielle Presse ihre höchste Geheimhaltungsstufe erreichte. Im April jenes Jahres ereignete sich der Tschernobyl-Unfall in der Ukraine (damals Sowjetunion); eine Atomkatastrophe, von der wir zusammen mit den „Sowjets“ (den damals in Kuba lebenden Angehörigen des russischen Verwaltungsapparats) als letzte erfahren haben.
Die nationalen Medien der Insel, die unter dem strengen Monopol der Kommunistischen Partei standen, verbargen monatelang die Explosion im Kernkraftwerk „Wladimir Iljitsch Lenin“, die so viel radioaktives Material freisetzte, um es schlichtweg in ganz Europa zu verbreiten. Die Einzelheiten dieser Katastrophe, der Schrecken, den der Unfall verursachte und die Zwangsevakuierung der Bewohner von Pripyat, der 3,5 Kilometer von den Reaktoren entfernten Stadt, wurden in kubanischen Zeitungen kaum erwähnt.
Während Millionen Eltern ihre Kinder ins Bett brachten, ohne zu wissen, ob es ein Morgen für sie geben würde, lebten wir hier fernab von der Tragödie, die sich dort zugetragen hatte. Die Kameraderie der Plaza de la Revolución mit dem Kreml bedeutete auch in diesem Fall, das Problem unter den informativen Teppich zu kehren, auch wenn es sich im wahrsten Sinne des Wortes um eine äußerst explosive Geschichte handelte. In den wenigen Details, die man Monate später erfuhr, war die Rede von einer kontrollierten Situation, von der Bestrafung der Schuldigen und von der heroischen Reaktion des sowjetischen Volkes.
Während Millionen von Eltern ihre Kinder ins Bett brachten, ohne zu wissen, ob es ein Morgen für sie geben würde, lebten wir hier fernab von der Tragödie, die sich zugetragen hatte
Das hätten wir auch weiterhin geglaubt, wenn nicht mit der Zeit andere Einzelheiten der Geschichte auf die Insel gelangt wären. Einige davon durch die so genannten Tschernobyl-Kinder, die mehr als zwei Jahrzehnte lang in Tarará, einem Ort östlich von Havanna, behandelt wurden. Dort hatte ich mehrere Sommer in Ferienlagern verbracht, in Häusern, die von der kubanischen Bourgeoisie konfisziert worden waren. Die Situation dieser Kinder, viele von ihnen Waisen, und ihre schweren gesundheitlichen Probleme passten nicht zu der offiziellen Geschichte, die sie uns erzählt hatten.
Wenn uns die russischen Parteifunktionäre sagten, dass westliche Medien doch nur übertrieben von diesem Unfall berichten würden und die Situation zudem schnell von abgehärteten sowjetischen Genossen unter Kontrolle gebracht worden wäre, wie konnten dann so viele Menschen davon betroffen sein? Etwas stimmte nicht mit dieser Geschichte, und später wussten wir auch was.
Die Serie „Chernobyl“ des US-amerikanischen Senders HBO ist bereits in Kuba im Umlauf – dank alternativer Content-Verteilungsnetzwerke. Die fünf Episoden wurden wahrscheinlich von mehr Fernsehzuschauern gesehen, als die offiziellen Nachrichten. Diese mediale Gier ist darauf zurückzuführen, dass wir Kubaner mehrerer Generationen ein Loch in unserer Geschichte füllen wollen und die Erinnerung an ein Ereignis rekonstruieren müssen, das sie uns vorenthielten.
Erinnerungen zu vervollständigen, die wir nie hatten, kann ein schmerzhafter Prozess sein. Das erste, was man spürt, wenn man sich die Anfangsszenen der Serie ansieht, ist Vertrautheit: die Objekte, die auch unsere Kindheit bevölkerten, die Ausdrucksweise der Opportunisten und das ständige Beschönigen der Realität, ein Grundpfeiler totalitärer Regime. Wir sehen Sowjetbürger, aber sie sind uns so ähnlich, dass es sich manchmal anfühlt, als wäre es unsere eigene Tragödie und ein bekannter Teil unserer Geschichte.
Dann folgt die Überzeugung, dass das menschliche Leben unter diesen Umständen nur von geringem Wert ist. Der Mensch als Zahl, der Mensch als Teil einer größeren Maschinerie, der sich nicht scheut seinesgleichen zu opfern. Einfache Bürger, die in den sicheren Tod geschickt werden, ohne das Ausmaß der Katastrophe und das Risiko zu kennen. Und die Lügen: die Welt zu täuschen, die Wahrheit zu verbergen, das Problem zu verheimlichen und diejenigen zu bedrohen, die von dem Ereignis hätten berichten können; also kurz gesagt, sich auf ein Statut zu berufen, das die UdSSR mehr als 70 Jahre lang aufrechterhielt: die Angst.
Die Welt zu täuschen, die Wahrheit zu verbergen, das Problem zu verheimlichen, diejenigen zu bedrohen, die von dem Ereignis hätten berichten können: also kurz gesagt, sich auf ein Statut zu berufen, das die UdSSR mehr als 70 Jahre lang aufrechterhielt: die Angst.
In den dunklen Tönen, die fast an Schwarz-Weiß grenzen, kann die Atmosphäre von „Chernobyl“ manchmal erstickend werden. Ab und an will man schreien, aber 33 Jahre nach diesem Ereignis wäre es ein ziemlich verspäteter Schrei… Je näher das Ende der Serie rückt, desto mehr wächst die Empörung. Wie konnte so etwas passieren und wieso standen wir derart am Rand des Geschehens? Warum wussten wir nie, wie nah die Welt damals an einer Atomkatastrophe unumkehrbaren Ausmaßes war?
Abgesehen vom zu freien Umgang mit den Fakten, den einige Rezensenten der Serie vorgeworfen haben, abgesehen von der Kritik an der Behandlung des Themas und an den Auswirkungen von radioaktiver Strahlung auf die Gesundheit, abgesehen vom Unmut, den diese Dokumentation bei russischen Behörden hervorgerufen hat, die eine eigene Verfilmung angekündigt haben, hat die Fernsehserie „Chernobyl“ für uns Kubaner einen besonderen Wert. Das liegt daran, dass damals in Cienfuegos das Kernkraftwerk „Juraguá“ gebaut wurde, eine „Kusine ersten Grades“ der ukrainischen Anlage. In Kenntnis der Ineffizienz, der Geheimhaltung und des triumphalen Gehabes des kubanischen Staatsunternehmens, wäre es eine Zeitbombe geworden.
Abgesehen von meiner Bestürzung aufgrund dieser HBO-Produktion glaube ich, dass „Chernobyl“ uns mit der Hoffnung zurücklässt, dass letztendlich alles ans Licht kommt, und dass es wenig Sinn macht eine Realität zu verschleiern oder zu verschweigen, denn es gibt immer Stimmen, die sie schließlich erzählen werden. Ich hoffe also auf alle Dokumentationen über Kuba und seine Tabuthemen, die uns die Zukunft bringen wird.
Übersetzung: Lena Hartwig
Das Team von 14ymedio setzt sich für einen seriösen Journalismus ein, der die Realität Kubas in all seinen Facetten widerspiegelt. Danke, dass Sie uns auf diesem langen Weg begleiten. Wir laden Sie ein, uns weiterhin zu unterstützen, diesmal aber durch die Mitgliedschaft bei 14ymedio. Gemeinsam können wir den Journalismus auf Kuba weiter voranbringen.