Die Berliner Mauer hat nie existiert

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Die Menschen in Berlin beginnen die Mauer einzureißen. (CC)

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YOANI SÁNCHEZ | La Habana | 09. November 2019

Für die offizielle kubanische Presse ist die Berliner Mauer nicht gefallen, sie steht noch oder hat nie existiert. Eine kurze Suche auf den Websites und in Printversionen der wichtigsten Medien des Landes reicht aus, um zu beweisen, dass es kaum eine Erwähnung der Mauer gibt, die Deutschland, Europa und die Welt jahrzehntelang spaltete und eine Narbe hinterließ. Denn sie ist immer noch ein Thema, das von den Ideologen des „Journalismus“, der in den von der Kommunistischen Partei kontrollierten Redaktionen gekocht wird, geleugnet und verborgen wird.

Am Samstag, dem 9. November, jährt sich zum 30. Mal der Tag, an dem die Berliner begannen, diese absurde Barriere niederzureißen

Am Samstag, dem 9. November, jährt sich zum 30. Mal der Tag, an dem die Berliner begannen, diese absurde Barriere niederzureißen und das sozialistische Lager in Osteuropa nach und nach wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel. Es ist auch ein Jubiläum jenes Jahres 1989 auf Kuba, als eine Generation hoffnungsvoll die Veränderungen mitverfolgte, die die „Weggefährten“ erschütterten, während die Plaza de la Revolución die politische Kontrolle verschärfte, um zu verhindern, dass Reformisten oder Anhänger der Perestroika an Boden gewinnen würden.

So wie die kubanischen Beamten es vor drei Jahrzenten taten, verbergen sie auch im November dieses Jahres erneut den Fall der Berliner Mauer vor uns…. aber wir haben bereits davon erfahren, wir haben bereits die Bilder mit Hämmern und Meißeln gesehen, die diese Mauer niedergerissen haben. Auf unserer Netzhaut gibt es trotz der Zensur einen jungen Mann, ein Kind, eine Familie, ein Volk…., die gemeinsam die strenge Grenze zum Einsturz brachten, die ihnen einst aufgezwungen wurde.

                  Übersetzung: Lena Hartwig


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Ein Barometer zur Messung der Korruption in Lateinamerika

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Die Wahrnehmung der Korruption in Lateinamerika ist sehr hoch, vor allem in Venezuela.

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YOANI SÁNCHEZ | La Habana | 02. Oktober 2019

Sie lächeln, trinken ein paar Gläser und einige Scheine wechseln den Besitzer. Mit ihnen werden auch Gefälligkeiten ausgetauscht, Allianzen gebildet, Vorrechte bei Ausschreibungen angeboten und die Lokalpolitik beeinflusst. Die Szene könnte sich überall in Lateinamerika abspielen, einem Kontinent, der nach wie vor von korrupten Praktiken, Misswirtschaft bei öffentlichen Geldern und Stimmenkauf geprägt ist.

Die zehnte Ausgabe des von Transparency International herausgegebenen Global Corruption Barometer (GCB)- Berichts nimmt den Krebs minutiös unter die Lupe, der Institutionen, Unternehmen und den Alltag krank macht. Der Bericht erkennt an, dass „in den letzten fünf Jahren große Fortschritte erzielt wurden“ und nennt als Beispiel die Untersuchung der Operation Lava Jato in Brasilien, zeigt aber auch, dass die Mehrheit der Bürger der Ansicht ist, dass ihre Regierungen „nicht genug tun, um die Korruption zu bekämpfen“.

Unter den befragten Bürgern aus 18 Länder des Kontinents stehen die Venezolaner mit 87 % an der Spitze derjenigen, die glauben, dass die Korruption in den letzten 12 Monaten zugenommen hat, gefolgt von 66 % der Dominikaner und 65 % der Peruaner. Auch 52 % der Kolumbianer teilen diese Meinung sowie 37 % der Bürger von Barbados.

Darüber hinaus warnt der Bericht vor den schädlichen und unverhältnismäßigen Auswirkungen korrupter Praktiken auf gefährdete Bereiche der Gesellschaft, insbesondere auf Frauen. Viele Frauen „sind gezwungen, sexuelle Gefälligkeiten im Austausch für öffentliche Dienstleistungen zu gewähren, im Zusammenhang mit Gesundheit und Bildung. Diese Gepflogenheit wird als sexuelle Erpressung oder ‚Sextorierung‘ bezeichnet“, hebt der Text hervor. Eine Situation, die bisher nicht in die Jahresberichte aufgenommen wurde, deren Häufigkeit aber zu einer stärkeren Offenlegung geführt hat.

21 % der Lateinamerikaner, die an diesen Umfragen teilgenommen haben, behaupten auch, dass die meisten oder alle mit der Presse in Verbindung stehenden Personen korrupt sind.

21 % der Lateinamerikaner, die an diesen Umfragen teilgenommen haben, behaupten auch, dass die meisten oder alle mit der Presse in Verbindung stehenden Personen korrupt sind. Die Straflosigkeit ist noch umfangreicher, weil diejenigen, die die Seiten der Zeitungen und Fernseh- oder Radiomikrofone benutzen müssen, um den Schmutz der Mächtigen anzuprangern, gekauft werden. Man bringt sie zum Schweigen und lässt sie die Fakten verzerren.

Glücklicherweise erreicht diese Übereinstimmung zwischen Macht und Presse, zwischen Feder und Pfründe nicht alle Reporter und Medien. Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Fälle von Bestechung, Schmiergeld und Korruption zunächst über die Zeitungen und Mikrofone von Fernsehen oder Radio bekannt wurden. Dies führte zwingend dazu, gerichtliche Ermittlungen einzuleiten und die Beteiligten hinter Gitter zu bringen. Aber es muss noch mehr getan werden.

Was würden lateinamerikanische Bürger sagen, wenn man sie nach ihren eigenen täglichen Handlungen gegen diese Praktiken fragte? Wären sie nicht nur bereit auf Regierungen, Institutionen, Nichtregierungsorganisationen und Journalisten als Teile dieses Verfalls hinzuweisen, sondern auch ihre eigene Rolle in einer so katastrophalen Situation anzuerkennen? Es spielt keine Rolle, ob sie eine Robe, eine Militäruniform, die Krawatte des Geschäftsmannes, das Tonbandgerät des Reporters oder den einfachen Overall eines Arbeiters tragen. Wir alle müssen uns diesem Monster mit seinen tausend Köpfen stellen − jede Minute, und gewissenhaft.

Übersetzung: Lena Hartwig


Dieser Beitrag wurde ursprünglich in der lateinamerikanischen Ausgabe der „Deutschen Welle“ publiziert.

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Das drahtlose Netzwerk, das die kubanische Regierung in Schach hält

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SNet ist für die Nutzer die bestorganisierte und bestvernetzte Gruppe am Rand des Regierungsapparats geworden. (Karla Gómez)

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YOANI SÁNCHEZ | La Habana | 14. August 2019

Seine Nutzer können nicht über Politik oder Religion sprechen, aber dennoch ist das Street Network (SNet), das Zehntausende Kubaner über WLAN verbindet, zu einem Raum der Freiheit und eines Zusammentreffens der Bürger geworden. Dieses virtuelle Netz, in dem gespielt, gechattet und Inhalte ausgetauscht werden, wird nun offiziell zensiert – kurz nachdem am 29. Juli die neuen Rechtsvorschriften zur Nutzung der Funk-Frequenzen in Kraft getreten sind.

Kreativität in Kuba ist seit Jahrzehnten ein Ausweg, um Problemen wie dem Mangel an Materialien und übermäßigen Kontrollen zu entkommen. Wie in einer Küche werden Rezepte erfunden, um die wenigen Zutaten, die auf dem Markt verfügbar sind, weniger langweilig zu machen und um die Probleme mit der Internetverbindung zu lösen. Dazu verwenden viele Menschen Offline-Tools, die Erfahrungen ersetzen, die sie im Web haben könnten.

SNet wurde vor mehr als einem Jahrzehnt gegründet, und zwar als Plattform für Videospiele, Foren, Ersatz für soziale Netzwerke und für den Datentransfer zwischen denen, die nicht die Möglichkeit hatten, häufig auf das globale Netzwerk zuzugreifen. Mit Geräten, die die meiste Zeit auf dem Schwarzmarkt gekauft wurden und anderen, die von den Benutzern selbst hergestellt wurden, begannen sich die Clients zu verbinden und die ersten Knoten entstanden. Es tauchten sogar Administratoren auf, die dieses Phänomen, das Havanna mit unsichtbaren Threads verknüpft, managen.

Während dieser gesamten Zeit existierte dieses rechtsungültige Phänomen und wurde von einem Beamtenapparat toleriert, der mehr Wert darauf legte, dass sich Tausende junger Menschen auf die neusten Videospiele konzentrierten als darauf, eine bürgerliche Haltung einzunehmen. Trotz alledem hat SNet der Plaza de la Revolución nie gefallen, vor allem, weil es den Menschen ermöglichte sich zu verbinden und Gemeinschaften jenseits von Ideologie und Politik zu schaffen. Für eine Regierung, die besessen davon war, jedes Detail des Lebens ihrer Bürger zu kennen, war das eine Gefahr.

Die Nutzer von SNet, die größte einigermaßen organisierte Gemeinschaft,
die es in Kuba gibt, haben sie auf ihrer Seite.
Gegen sich allerdings ein System,
das befürchtet, dass sich die Bürger vereinen werden,
ohne den Befehl dazu zu erhalten.

Die neue Gesetzgebung für drahtlose Netzwerke verleiht SNet zwar Rechtsgültigkeit, hat dieses aber zugleich zum Scheitern verurteilt. Die Verordnung enthält strenge technische Anforderungen, die bei strikter Einhaltung Reichweite, Geschwindigkeit sowie die Anzahl der Benutzer einschränken würden, die sich damit verbinden können. Es handelt sich um eine Verordnung, die darauf abzielt, den Einfluss zu verringern, den dieses Geflecht aus NanoStations und Mikrotiks – einige der Geräte aus denen SNet besteht – ausübt. Die offizielle Entscheidung ist ein Weg SNet abzuwürgen, ohne es zu verbieten, und so die Bedeutung durch die Einschränkung der Technologie zu verringern.

Die Reaktion der Benutzer ließ nicht lange auf sich warten. Am vergangenen Samstag versammelten sich Dutzende von Menschen vor dem Ministerium für Kommunikation, um eine Sondergenehmigung zu verlangen, die es SNet ermöglicht den Betrieb fortzusetzen. Mehrere der Demonstranten schlugen vor, dass die Behörden die Infrastruktur des Netzes nutzen sollten, um die „Informatisierung“ der kubanischen Gesellschaft zu fördern, und dass das staatliche Monopol für Telekommunikation, Etecsa, Vereinbarungen mit den Administratoren treffen sollte, um so einen Internetzugang über deren Knotenpunkte und Antennen zu ermöglichen.

Die offizielle Antwort war nicht positiv und die SNet-Nutzer bereiten sich auf neue Aktionen vor. Die größte, einigermaßen organisierte Gemeinschaft, die es in Kuba gibt, haben sie auf ihrer Seite. Gegen sich allerdings ein System, das befürchtet, dass sich die Bürger vereinen werden, ohne den Befehl dazu zu erhalten.

     Übersetzung: Berte Fleißig


Dieser Beitrag wurde ursprünglich in der lateinamerikanischen Ausgabe der „Deutschen Welle“ publiziert.

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Ricky gab auf, im Rhythmus des Reggaeton (2.Teil)

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Die Demonstranten feiern den Rücktritt von Ricardo Roselló. (14ymedio/Juan Jaramillo)

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YOANI SÁNCHEZ | San Juan, Puerto Rico | 27. Juli 2019

Mir war ganz wirr im Kopf von der Vielzahl an Eindrücken und meiner Müdigkeit. Ich glaubte etwas von den zwei Flügeln der großen Antillen zu hören, von den Inseln, die sich nur gemeinsam in die Lüfte erheben können. Der Morgen bricht herein und auf dem anderen Flügel, in Kuba, beginnt in wenigen Stunden der offizielle Staatsakt des 26.Juli *).

Hier üben die Puerto-Ricaner ihre Zivilkraft gegen die Staatsmacht aus und auf Kuba wohnen die Menschen einer starren Liturgie bei, der ausgelaugten Zeremonie der „Kontinuität“, dem von Miguel Díaz-Canel stetig wiederholten Motto, um etwas fortzuführen, was bereits zu lange andauert. Hier reden die Menschen miteinander und vereinen sich, dort sind die Kubaner still und ängstlich. An demselben Morgen gleicht San Juan einem Fest und Havanna einer Grabstätte.

Harry fährt täglich zehn Stunden für den Fahrdienst-Anbieter Uber, sein Immobiliengeschäft verlor er durch den Wirbelsturm. Für jeden Menschen, den ich kennenlerne, gibt es ein Leben vor und nach ‚María‘. Die Erwähnung dieses Namens reicht aus, um die Menschen emotional werden zu lassen und die Anekdoten sprudeln nur so aus ihnen heraus. „Ich hätte weggehen sollen, denn einer meiner Brüder aus New York war bereit, mir bei meinem Umzug dorthin zu helfen, aber ich wollte meine Eltern nicht allein lassen“, erzählt er.

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Einen Tag nach dem Rücktritt des Gouverneurs erinnern die Graffiti auf den Straßen noch an die langen Tage der Proteste. (14ymedio)

Harry, der der Abdankung von Roselló skeptisch gegenübersteht, gehört zu den wenigen, die bei dem Rücktritt des Gouverneurs weder protestierten noch feierten. „Es ist egal, ein Korrupter geht und ein neuer rückt nach“, meint er. „Der Nächste wird uns auch berauben“, versichert er mit Nachdruck, während wir in Richtung Ocean Park im Viertel Santurce fahren. Ein schwarzes Tuch schlägt laut gegen einen Mast. “Ricky, verzichte“, steht dort in großen weißen Buchstaben.

Das Fahrzeug biegt um die Ecke und fährt an einer Walgreens Apotheke, einem McDonald’s und einem KFC vorbei. Im gesamten Viertel versuchen sich lokale Geschäfte gegen große Unternehmen zu behaupten, die „mehr für weniger Geld anbieten“, erzählt mir Harry. „Die jungen Leute essen lieber einen Hamburger als ein Frikassee“, beklagt er.

Harry ist seit jenem Mittwoch sehr besorgt, als Rosselló seinen Rücktritt ankündigte. „Ich lebe vom Tourismus und von den Menschen, die hierherkommen, um Geschäfte zu machen. Wenn sie uns als instabiles oder unsicheres Land betrachten, werden sie nicht mehr kommen“, schätzt er. Er schlägt mir einen guten Preis für die Hin- und Rückfahrt an einen Strand vor, aber sofort fällt ihm ein, dass ich von einer Insel stamme und er berichtigt sich: „Ah…stimmt, ihr habt dort auch ziemlich viel Sonne“.

Ich erreiche den Stadtteil Río Piedras, in dem es scheint, als sei die Zeit stehengeblieben. Der früher dicht besiedelte Boulevard ist mittlerweile eine Straße mit wenigen Geschäften und verlassenen Gebäuden. Ein Laden präsentiert auf dem Gehweg seine Waren Made in China. Ich spaziere weiter und komme zu einem kleinen Stand, der Honig, Zitronen und Ingwer verkauft. Das passt mir gut, denn mein Hals schmerzt von dem Regen in Havanna und dem Treiben in Puerto Rico. Ich genieße den Schatten und gehe auf den Händler zu.

“Hier war früher alles voller Leben“, erzählt er mir. Aus dem verlassenen Haus hinter mir kommen mehrere Katzen. Eine, schwarz wie die Nacht, schmiegt sich an meine Beine, damit ich ihr etwas zu fressen gebe. Ich überquere die Straße und kaufe ein frittiertes puerto-ricanisches Maisgebäck von einer Frau, deren kleiner Stand an dem Eingang zu einem Café steht. Vorne wiederholt eine Stimme auf Tonband immer wieder die „nur heute“ verfügbaren Angebote.

In Río Piedras, nahe der Universität von Puerto Rico, wollen die Menschen nicht mehr warten. Ein Kaffeeverkäufer erinnert sich an die Explosion im Laden Humberto Vidal, die 1996 dreiunddreißig Tote und eine unvergessliche Narbe im Gedächtnis der Bewohner des Viertels hinterließ. „Danach wurde alles nur noch schlimmer“, erzählt er und reicht mir eine Tasse mit einer starken, bitteren Flüssigkeit, bei der mir der Atem stockt. „Wir mussten gar keinen Schuss abgeben und Ricky gab auf“, prahlt er.

Wenn die kleinen Unterschiede im Akzent und der fehlende Hauch von gerösteten Erbsen im Kaffee nicht wären, würde ich glauben, ich unterhielte mich mit einem beliebigen Kubaner in einem Dorf im Inneren des Landes

Wenn die kleinen Unterschiede im Akzent und der fehlende Hauch von gerösteten Erbsen im Kaffee nicht wären, würde ich glauben, ich unterhielte mich mit einem beliebigen Kubaner in einem Dorf im Inneren des Landes. Der Kaffeeverkäufer richtet sich mit einer Hand das Haar, hebt den Zeigefinger und belehrt mich, dass „Puerto Rico nicht mehr so ist wie früher; jetzt wissen wir, dass wir stark sind und man uns respektieren muss“.

Auf der anderen Straßenseite präsentiert ein kolumbianisches Unterwäschegeschäft BHs mit Spitze. „Also, typisch kubanisch“, merkt der Mann an. Ich mache Anstalten zu gehen, weil ich den Verdacht hege, dass er die Klischees über meine Insel wiederholt, der andere Flügel mit seinen eigenen Wunden. Ich ahne, dass er „die Eroberungen der Revolution” herunterbeten wird, aber ich irre mich. „Bei euch steht das noch aus“, betont er in überheblichem Tonfall. „Wenigstens haben wir schon einen Teil des Weges geschafft“.

Ich gehe zurück, um der Katze etwas zu fressen zu geben, aber sie ist nicht mehr da. Das Gebäude, aus dem sie kam, riecht nach Verlassenheit, nach dieser Feuchtigkeit, die sich in den Wänden einnistet, wenn die Räume leer stehen. Ein Graffiti in der Nähe fordert, dass Ricky zurücktreten solle, und an der Ecke schlägt eine verschlissene Flagge gegen einen Balkon. Ich schließe leicht die Augen und die Müdigkeit oder die Hitze lassen mich blaue statt roter Streifen sehen, neben einem blutroten Dreieck.

Übersetzung: Lena Hartwig

Anmerkung d. Übers.:

*) Der Gedenktag für den Angriff auf die Moncloa-Kaserne, mit dem am 26. Juli 1953 die Revolution begann.


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“Chernobyl”, die rekonstruierte Erinnerung

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In der aktuellen Fernsehserie „Chernobyl“ des US-amerikanischen Kanals HBO (Home Box Office) wird der größte Atomunfall der Geschichte rekonstruiert.

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YOANI SÁNCHEZ | La Habana | 12. Juni 2019 

Ich war 10 Jahre alt und meine Welt war so groß wie die der Matrjoschkas, die mein Wohnzimmer schmückten. Es war 1986 und in Kuba wurde die Schraube der Verstaatlichungen durch den so genannten Prozess der „Korrektur von Fehlern und negativen Tendenzen“ weiter angezogen, wobei die offizielle Presse ihre höchste Geheimhaltungsstufe erreichte. Im April jenes Jahres ereignete sich der Tschernobyl-Unfall in der Ukraine (damals Sowjetunion); eine Atomkatastrophe, von der wir zusammen mit den „Sowjets“ (den damals in Kuba lebenden Angehörigen des russischen Verwaltungsapparats) als letzte erfahren haben.

Die nationalen Medien der Insel, die unter dem strengen Monopol der Kommunistischen Partei standen, verbargen monatelang die Explosion im Kernkraftwerk „Wladimir Iljitsch Lenin“, die so viel radioaktives Material freisetzte, um es schlichtweg in ganz Europa zu verbreiten. Die Einzelheiten dieser Katastrophe, der Schrecken, den der Unfall verursachte und die Zwangsevakuierung der Bewohner von Pripyat, der 3,5 Kilometer von den Reaktoren entfernten Stadt, wurden in kubanischen Zeitungen kaum erwähnt.

Während Millionen Eltern ihre Kinder ins Bett brachten, ohne zu wissen, ob es ein Morgen für sie geben würde, lebten wir hier fernab von der Tragödie, die sich dort zugetragen hatte. Die Kameraderie der Plaza de la Revolución mit dem Kreml bedeutete auch in diesem Fall, das Problem unter den informativen Teppich zu kehren, auch wenn es sich im wahrsten Sinne des Wortes um eine äußerst explosive Geschichte handelte. In den wenigen Details, die man Monate später erfuhr, war die Rede von einer kontrollierten Situation, von der Bestrafung der Schuldigen und von der heroischen Reaktion des sowjetischen Volkes.

Während Millionen von Eltern ihre Kinder ins Bett brachten, ohne zu wissen, ob es ein Morgen für sie geben würde, lebten wir hier fernab von der Tragödie, die sich zugetragen hatte

Das hätten wir auch weiterhin geglaubt, wenn nicht mit der Zeit andere Einzelheiten der Geschichte auf die Insel gelangt wären. Einige davon durch die so genannten Tschernobyl-Kinder, die mehr als zwei Jahrzehnte lang in Tarará, einem Ort östlich von Havanna, behandelt wurden. Dort hatte ich mehrere Sommer in Ferienlagern verbracht, in Häusern, die von der kubanischen Bourgeoisie konfisziert worden waren. Die Situation dieser Kinder, viele von ihnen Waisen, und ihre schweren gesundheitlichen Probleme passten nicht zu der offiziellen Geschichte, die sie uns erzählt hatten.

Wenn uns die russischen Parteifunktionäre sagten, dass westliche Medien doch nur übertrieben von diesem Unfall berichten würden und die Situation zudem schnell von abgehärteten sowjetischen Genossen unter Kontrolle gebracht worden wäre, wie konnten dann so viele Menschen davon betroffen sein? Etwas stimmte nicht mit dieser Geschichte, und später wussten wir auch was.

Die Serie „Chernobyl“ des US-amerikanischen Senders HBO ist bereits in Kuba im Umlauf – dank alternativer Content-Verteilungsnetzwerke. Die fünf Episoden wurden wahrscheinlich von mehr Fernsehzuschauern gesehen, als die offiziellen Nachrichten. Diese mediale Gier ist darauf zurückzuführen, dass wir Kubaner mehrerer Generationen ein Loch in unserer Geschichte füllen wollen und die Erinnerung an ein Ereignis rekonstruieren müssen, das sie uns vorenthielten.

Erinnerungen zu vervollständigen, die wir nie hatten, kann ein schmerzhafter Prozess sein. Das erste, was man spürt, wenn man sich die Anfangsszenen der Serie ansieht, ist Vertrautheit: die Objekte, die auch unsere Kindheit bevölkerten, die Ausdrucksweise der Opportunisten und das ständige Beschönigen der Realität, ein Grundpfeiler totalitärer Regime. Wir sehen Sowjetbürger, aber sie sind uns so ähnlich, dass es sich manchmal anfühlt, als wäre es unsere eigene Tragödie und ein bekannter Teil unserer Geschichte.

Dann folgt die Überzeugung, dass das menschliche Leben unter diesen Umständen nur von geringem Wert ist. Der Mensch als Zahl, der Mensch als Teil einer größeren Maschinerie, der sich nicht scheut seinesgleichen zu opfern. Einfache Bürger, die in den sicheren Tod geschickt werden, ohne das Ausmaß der Katastrophe und das Risiko zu kennen. Und die Lügen: die Welt zu täuschen, die Wahrheit zu verbergen, das Problem zu verheimlichen und diejenigen zu bedrohen, die von dem Ereignis hätten berichten können; also kurz gesagt, sich auf ein Statut zu berufen, das die UdSSR mehr als 70 Jahre lang aufrechterhielt: die Angst.

Die Welt zu täuschen, die Wahrheit zu verbergen, das Problem zu verheimlichen, diejenigen zu bedrohen, die von dem Ereignis hätten berichten können: also kurz gesagt, sich auf ein Statut zu berufen, das die UdSSR mehr als 70 Jahre lang aufrechterhielt: die Angst.

 In den dunklen Tönen, die fast an Schwarz-Weiß grenzen, kann die Atmosphäre von „Chernobyl“ manchmal erstickend werden. Ab und an will man schreien, aber 33 Jahre nach diesem Ereignis wäre es ein ziemlich verspäteter Schrei… Je näher das Ende der Serie rückt, desto mehr wächst die Empörung. Wie konnte so etwas passieren und wieso standen wir derart am Rand des Geschehens? Warum wussten wir nie, wie nah die Welt damals an einer Atomkatastrophe unumkehrbaren Ausmaßes war?

Abgesehen vom zu freien Umgang mit den Fakten, den einige Rezensenten der Serie vorgeworfen haben, abgesehen von der Kritik an der Behandlung des Themas und an den Auswirkungen von radioaktiver Strahlung auf die Gesundheit, abgesehen vom Unmut, den diese Dokumentation bei russischen Behörden hervorgerufen hat, die eine eigene Verfilmung angekündigt haben, hat die Fernsehserie „Chernobyl“ für uns Kubaner einen besonderen Wert. Das liegt daran, dass damals in Cienfuegos das Kernkraftwerk „Juraguá“ gebaut wurde, eine „Kusine ersten Grades“ der ukrainischen Anlage. In Kenntnis der Ineffizienz, der Geheimhaltung und des triumphalen Gehabes des kubanischen Staatsunternehmens, wäre es eine Zeitbombe geworden.

Abgesehen von meiner Bestürzung aufgrund dieser HBO-Produktion glaube ich, dass „Chernobyl“ uns mit der Hoffnung zurücklässt, dass letztendlich alles ans Licht kommt, und dass es wenig Sinn macht eine Realität zu verschleiern oder zu verschweigen, denn es gibt immer Stimmen, die sie schließlich erzählen werden. Ich hoffe also auf alle Dokumentationen über Kuba und seine Tabuthemen, die uns die Zukunft bringen wird.

            Übersetzung: Lena Hartwig


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„14ymedio“: fünf Jahre seit jenem ersten Tag

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In diesem Gebäude in Havanna hat die Redaktion von „14ymedio“ in den fünf Jahren viele hektische, nervige und arbeitsreiche Stunden erlebt. (14ymedio)

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YOANI SÁNCHEZ | La Habana | 21. Mai 2019 

Am 21. Mai hatte „14ymedio“ Geburtstag. Dieses „informative Geschöpf“ feiert fünf Jahre seines Bestehens, mit nicht angenommenen Herausforderungen einerseits und dem guten Gefühl, bis hierher gekommen zu sein. Für jedes publizierende Medium sind fünf Jahre ein Beweis für Reife, aber im Fall Kuba, wo unabhängige Medien zensiert oder verboten sind, ist es ein echter Akt von Mut und Ausdauer.

Seit jenem 21. Mai 2014 ist viel Regen gefallen. Die frühen Morgenstunden waren anstrengend, die Kaffeetassen häuften sich auf den Tischen der Redaktion in Havanna, die Geschichten, die wir erzählen wollten, vervielfachten sich und mehr als einmal brachte die journalistische Arbeit einen Reporter unseres Teams hinter Gitter, als Folge einer willkürlichen Verhaftung.

In dieser Zeit haben auch wir uns verändert. Die Reportagen, die Berichte und die Interviews, die wir machten, haben bei allen Mitgliedern der Redaktion Spuren hinterlassen. Wir sagten „Lebewohl“ zu einigen Kollegen die emigrierten; wir versuchten andere zu trösten, die aus Angst vor Repressalien nicht mehr publizieren wollten und wir begrüßten neue Gesichter. Wir straften mehrere Prognosen Lügen, die uns eine Existenz von höchstens ein paar Monaten prophezeiten und wir überzeugten etliche Skeptiker davon, dass Information, guter Journalismus und die Presse unsere Sache ist.

Anfangs kommunizierten wir im Verlag ausschließlich per E-Mails; WiFi – Hotspots auf Plätzen und in Parks gab es noch nicht, das diplomatische Tauwetter zwischen Washington und Havanna hatte noch nicht begonnen, Kreuzfahrtschiffe legten noch nicht in kubanischen Häfen an und Fidel Castro veröffentlichte weiterhin seine verrückten „Reflexionen“ in der offiziellen Presse.

Wenn jemand erreicht, dass seine Geschichte auf unseren Seiten sichtbar wird und sich damit sein Problem löst, dann ist das für uns ein Ansporn weiterzumachen.

In dieser Zeit haben wir uns auf andere Plattformen ausgedehnt; heute verbreitet sich ein Teil unserer Inhalte auch über Instant-Messaging-Dienste wie WhatsApp und Telegram. Wir haben einen informativen Podcast eingerichtet, pflegen einen wöchentlichen E-Mail Newsletter und konfigurieren jeden Freitag mit gewohnter Routine eine PDF-Datei mit den Nachrichten der Woche; wir engagieren uns für die Zusammenarbeit mit verschiedenen Medien und wir bieten für Mitglieder ein spezielles Programm an.

Es gab auch harte Tage; Momente, in denen es so aussah, als ob wir es nicht schaffen würden. Von denen gibt es immer noch viele, aber jeder Kommentar eines Lesers, ein ermutigendes Wort an uns auf der Straße oder in sozialen Medien, jemand, dessen Geschichte auf unseren Seiten sichtbar wird und dessen Problem sich dadurch löst − das ist es, was uns anspornt weiterzumachen.

Wir stehen auf zwei festen Beinen: auf unserer journalistischen Arbeit, die jeden Tag besser werden sollte, und auf unserer wirtschaftlichen Unabhängigkeit, die wir bewahren wollen, ohne einen Cent von Regierungen, Parteien oder mächtigen Gruppen anzunehmen. Unsere Absicht ist integer. Wir wünschen uns, dass Kuba auf dem Weg zu einem demokratischen Wandel vorankommt und dass „14ymedio“ noch da ist, um die Bürger mit Informationen zu begleiten − wie der Dinosaurier in der Kurzgeschichte*) von Augusto Monterroso.

Übersetzung: Dieter Schubert

Anmerkung des Übersetzers:

*) Augusto Monterroso (1921 – 2003) war ein guatemaltekischer Schriftsteller und Diplomat, der viele Jahre im mexikanischen Asyl lebte. Bekannt wurde er mit seinen Kürzestgeschichten. Sein Text „Der Dinosaurier“ gilt weltweit als die kürzeste Erzählung, sie lautet: „Als er erwachte, war der Dinosaurier noch immer da“.


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